Wem die Glocke schlagen wird
23.05.2020 SissachEine Reise in die Vergangenheit, Teil 5: Wir erobern Pitcairn
«Wut-a-way you – Wes Weges gehst du?», fragte er. Und meinte damit nichts anderes als: «Guten Tag». Ich grüsste ihn meinerseits und stellte mich vor. «I glad to meet yorley» (I’m ...
Eine Reise in die Vergangenheit, Teil 5: Wir erobern Pitcairn
«Wut-a-way you – Wes Weges gehst du?», fragte er. Und meinte damit nichts anderes als: «Guten Tag». Ich grüsste ihn meinerseits und stellte mich vor. «I glad to meet yorley» (I’m glad to meet you), antwortete er. «Ich bin froh, dich zu treffen.» Danke gleichfalls, wir auch!
Hanspeter Gsell
Das Pitcairn-Englisch («Pitkern») ist eine nur hier und auf den Norfolk-Inseln existente Kreolsprache. Sie basiert auf einem Dialekt des Englischen des 18. Jahrhunderts und dem Tahitianischen jener Epoche.
Wir setzten uns auf sein Gefährt. Jay nahm Anlauf und überholte unterwegs schwitzende Touristen. Schon nach wenigen Minuten waren wir in Adamstown, der Hauptstadt von Pitcairn, oder wie die Polynesier sagen, Hiti-Au-Revareva, angekommen.
Adamstown
Die meisten Einwohner leben in und um Adamstown, der ursprünglichen Heimat der Meuterer. Adamstown liegt auf den nördlichen Abhängen der Insel in einer Höhe von 120 bis 150 Metern über Meer. Die Gemeinde umfasst ein Gebiet von 20 Hektaren; bei knapp 50 Einwohnern kann man sich gut aus dem Weg gehen. Vom Ortsteil The Edge, dem Einfallstor – wenn auch gänzlich ohne Tor – windet sich die Strasse durch die Hauptstadt Adamstown.
Entlang dieser Strasse, sie schlängelt sich parallel zur Küstenlinie, wohnt man heute in mehr oder weniger massiven Gebäuden. Einige stehen etwas windschief in der Gegend, andere scheinen stabil genug zu sein, auch einem veritablen Taifun standhalten zu können. Wenn man vom Edge kommend die Wegmarke Big Fence, den grossen Zaun, passiert hat, sieht man etwas unterhalb der Strasse die neue Satelliten-Station, die auch das gesamte Telekommunikationssystem der Insel beherbergt. Die alte Radio-Station, die Vorgängerin der heute automatisierten Station, liegt etwas ausserhalb des Orts. Dort wohnte und arbeitete früher der Inselfunker. Nicht immer, aber meistens. Der arme Kerl musste zwischendurch auch mal schlafen!
An der Main Road, der Hauptstrasse, liegt der General Store, eine Mischung zwischen Tante-Emma-Laden und Baumarkt. Der Shop ist geöffnet von 10 bis 18 Uhr, zwischen 12 und 14 Uhr ist er geschlossen. Von Donnerstag bis Dienstag ebenfalls. Etwas unterhalb des Baumarkts hat man die Stromgeneratoren montiert. Über deren Betriebszeiten gibt es unterschiedliche Ansichten. Sollten Sie auf Pitcairn ankommen und Ihren elektrischen Bratwurstgrill in Betrieb nehmen wollen, fragen Sie zuerst den Bürgermeister, ob denn Strom erhältlich sei.
Vom Sinn des Wartens
Etwas weiter der Hauptstrasse entlang sieht man den «Square», den Dorfplatz, das eigentlichen Zentrum von Pitcairn. Das Gerichtsgebäude umfasst etwa einen Viertel dieses Platzes, eine hölzerne Veranda fasst es ein. Würde auf der Veranda nicht ein Anker stehen, man könnte sich durchaus vorstellen, dass John Wayne mit einer Flasche Whisky durch die Pendeltüre tritt und eine wilde Schiesserei vom Stapel lässt.
Der Anker jedoch ist das wahre, wenn auch stählerne Herz der Insel: Es handelt sich um das Originalteil von der «Bounty». Erst 1957 wurde er von Tauchern gefunden und hier platziert. Das Gerichtsgebäude dient nicht nur der Justiz, sondern wird auch für andere Zwecke genutzt. Es ist quasi die Mehrzweckhalle der Nation: Manchmal wird getanzt und gegessen, manchmal trauert man und vergiesst auch manche Träne. Die Innenräume sind dekoriert mit historischen Bildern, offiziellen Porträts und anderen, mehr oder weniger wichtigen Memorabilien. Solche sind auf Pitcairn mehr als nur blosse Erinnerungen: Sie versinnbildlichen die eigene, ganz persönliche Geschichte. Gegenüber dem Gerichtsgebäude steht die Adventisten-Kirche.
Ebenfalls am «Square» liegt das Büro des Insel-Sekretärs, «The Island Secretary’s Office», die öffentliche Bibliothek und die Post. Rund um die Gebäude gibt es Sitzmöglichkeiten, lange Bänke, auf denen man palavert und wartet. Warten ist hier eine wichtige Beschäftigung. So wichtig, dass ich ausnahmsweise zwei Wissenschaftlern das Wort erteile: «Wer nicht weiss, worauf er wartet, der weiss zunächst nicht, dass er überhaupt wartet», behauptet der Soziologe Andreas Göttlich von der Universität Konstanz. «Warten ist kein Selbstzweck», meint hingegen der Soziologe Rainer Paris. «Warten ohne Ziel ist wie Paartanz ohne Partner.»
Ich bin durch diese Aussagen nicht gescheiter geworden. Aber immerhin weiss ich jetzt, was ein Soziologe so treibt: Er wartet.
Der Schlag der Glocke
Auf dem Square hängt eine Glocke; eine Glocke, die besondere Ereignisse ankündigt. Der Prediger schlägt sie zweimal, wenn er seine Schäflein ruft.
Dreimal wird sie vom Bürgermeister geschlagen, wenn öffentliche Arbeiten angesagt sind. Dann wird schon mal zur Müllabfuhr, zur Strassenreinigung oder zu Unterhaltsarbeiten eingeteilt.
Vier Glockenschläge bedeuteten früher, dass ein vorbeifahrendes Schiff Nahrung für die Insel abgeladen habe. Am liebsten aber hört man heute wohl fünf Schläge: Ein Schiff wird kommen. Damit meint man nicht den gleichnamigen Schlager, sondern die Tatsache, dass jetzt Business angesagt ist.
Das Health Centre, die Krankenstation, liegt etwas unterhalb der Hauptstrasse an bester Lage. Die Aussicht auf das weite Meer ist bemerkenswert. Ob dies auch von den Patienten so gesehen wird, ist eher zweifelhaft.
Die Hauptstrasse führt weiter in Bob’s Valley. Dieses Tal findet man auch ohne genaue Beschreibung: Man riecht es von Weitem! Die Königin der Nacht ist es, die hier wächst, blüht und meistens gut riecht. Die Pflanze aus der Familie der Kakteen fühlt sich ausserordentlich wohl hier: Die wohlriechenden Blüten sind bis zu 30 Zentimeter lang und erreichen ebensolche Durchmesser. Ihren Namen erhielt die Königin der Nacht, weil ihre Blüten nur einmal im Jahr blühen, und zwar immer nur für eine Nacht.
Kaum hat man Bob’s Valley verlassen, führt der Weg zum Friedhof und weiter zur alten Zuckerrohrmühle sowie zu Christian’s Cave. Vor diesem kavernenartigen Unterstand soll Fletcher Ausschau nach Schiffen gehalten haben. Nicht, um diese auf die Insel und ihre Bewohner aufmerksam zu machen, sondern um notfalls die Gewehre zu schultern und einen etwaigen Eindringling einen Kopf kürzer zu machen.
Die Insel muss wohl ein Paradies sein für Schnecken- und Käfersammler. So soll die vom Aussterben bedrohte Rotwangen-Spitzschwanzschnecke nur noch auf Pitcairn leben. Liebhaber bunter Vögel bekommen angesichts seltener Tiere Schnappatmung. Botaniker fallen reihenweise in Ohnmacht: Viele Pflanzen sind ausschliesslich auf Pitcairn heimisch.
Henderson Island
Die zu Pitcairn gehörende Insel Henderson wurde im April 1988 zum Unesco-Welterbe erklärt. Und das ist gut so. Sonst wäre die Geschichte Pitcairns wohl anders verlaufen.
1606 entdeckte der Portugiese Pedro Fernández de Quirós die Insel und beschrieb sie in seinem Logbuch:
«Die Insel ist massiv, offen, von mässiger Höhe und hat Baumgruppen auf einer Hochebene. Auch ist es steil und seine Strände sind felsig. Es ist nur von Vögeln bewohnt. Da es keinen Hafen hat, wo wir Holz und Wasser aufnehmen konnten, setzten wir unsere Reise fort.»
Die Insel wurde erst 1819 von James Henderson, einem Kapitän der British East India Company, wiederentdeckt und erhielt ihren jetzigen Namen. Auf Henderson landeten etwas später die Schiffbrüchigen des amerikanischen Walfängers «Essex» aus Nantucket, nachdem ihr Schiff 1820 von einem Pottwal gerammt worden und gesunken war. Das später veröffentlichte Tagebuch von Owen Chase, einem Besatzungsmitglied der «Essex», bildete die Vorlage für Melvilles Roman «Moby Dick».
Ansonsten tauchte Henderson kaum mehr in der Weltgeschichte auf. Nur gerade in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts fand man den Namen in einer kurzen Zeitungsmeldung.
«1937 hatte ein britisch-neuseeländischer Kreuzer die Inseln Oeno, Ducie und Henderson aufgesucht.» Um den Anspruch der britischen Krone zu erneuern, hisste man auf Henderson den Union Jack und hinterliess eine Plakette mit der Aufschrift: «Diese Insel gehört S. M. König Georg.»
Bei einem erneuten Besuch im Dezember 1940 war die Plakette durch eine Tafel ersetzt worden: «Mit den besten Empfehlungen an König Georg VI., diese Insel ist jetzt Eigentum des Grossdeutschen Reiches.»
In loser Folge erscheint in der «Volksstimme» die sechsteilige Serie zur Reise des Sissachers Hanspeter Gsell nach Pitcairn – auf den Spuren der HMVA Bounty – im Frühjahr 2019.