«Wir können Gott nicht alles anlasten»
27.03.2020 SissachDavid Thommen
Es ist Zeit, um aufs Wochenende hin für einmal ganz grundlegend zu werden: Was hat uns dieses Virus aus theologischer Sicht zu sagen?
Gerd Sundermann: Ich habe Mühe damit, das Virus oder irgendwelche Plagen und Seuchen mit Gott in ...
David Thommen
Es ist Zeit, um aufs Wochenende hin für einmal ganz grundlegend zu werden: Was hat uns dieses Virus aus theologischer Sicht zu sagen?
Gerd Sundermann: Ich habe Mühe damit, das Virus oder irgendwelche Plagen und Seuchen mit Gott in Verbindung zu bringen. Die Natur funktioniert so, wie sie sich seit Jahrmillionen entwickelt hat. Zu dieser Natur gehören Viren dazu, sie sind so alt wie das Leben auf dieser Erde. Es wäre gefährlich, zu sagen, das Coronavirus sei von Gott losgeschickt worden, um uns Menschen für etwas zu bestrafen, das wir falsch gemacht haben.
Matthias Plattner: Ich teile diese Ansicht: Organismen sind per se weder gut oder böse und bestimmt auch keine Werkzeuge einer höheren Macht. Wie Theologien das Coronavirus später einmal deuten werden und welche Narrative geschaffen werden, lässt sich heute nicht abschätzen. Dafür ist es viel zu früh.
Ist es nicht eine überaus naturwissenschaftliche Erklärung, dass ein solches Virus halt einfach zur Natur gehört? Noch jede Seuche wurde – zumindest in früheren Zeiten – reflexartig als Geissel oder Strafe Gottes gedeutet.
Sundermann: Jede Katastrophe wurde einst mit Gott in Verbindung gebracht. Diese Sichtweise ist überholt. Wir sollten in der Theologie weniger darauf schauen, wie die Natur funktioniert. Wir erkennen Gott nicht in den Zusammenhängen der Natur, sondern wir erkennen ihn in Jesus von Nazareth. In ihm hat sich Gott gezeigt, durch ihn ist er unter uns Menschen gekommen. Jesus bringt die Botschaft von einem Gott der Liebe, der Güte und der Barmherzigkeit und nicht von einem Gott, der die Menschen mit Katastrophen straft.
Kann man als Pfarrer tatsächlich sagen, Gott habe nichts damit zu tun, was hier gerade passiert?
Plattner: Dieser Schluss würde zu weit führen. Aber die Idee, dass alles Unbegreifliche von Gott kommt, stammt aus einer Zeit, als die Menschen wenig Wissen und Bildung hatten. Es gibt dank heutigem Wissensstand im 21. Jahrhundert für vieles ganz rationale Erklärungen. Wir können Gott nicht immer alles anlasten, das wäre billig.
Sundermann: Gott ist nicht die Ursache. Er hat dennoch ganz viel zu tun mit dieser Pandemie: Er steht an der Seite der Leidenden.
Das Virus hat sich anfänglich nicht zuletzt Religionsgemeinschaften «ausgesucht», um sich zu verbreiten – zum Beispiel im Elass oder in Südkorea. Muss diesem Umstand aus Religionsperspektive eine besondere Bedeutung zugemessen werden?
Sundermann: Ganz bestimmt nicht. Das Virus verbreitet sich überall, deshalb schützen wir uns ja auch alle. Nochmals: Das Virus hat seine Ursache nicht in Gott. Das Virus ist keine göttliche Strafe.
Plattner: Das Virus trifft Fromme und Nichtfromme, Andersgläubige sowie Atheisten ja im gleichen Mass. Wie war es in Italien? Es gibt Stimmen, die behaupten, dass die Ursache für die vielen Fälle dort ein Fussballmatch zwischen Bergamo und Mailand mit 80 000 Zuschauern war.
Das Virus bedroht und betrifft alte Menschen im ganz besonderen Masse. Was bedeutet das für Sie in Ihrer Arbeit?
Sundermann: Ich empfinde das als grosse Belastung. Ich bin von den Menschen, die mir als Pfarrer anvertraut sind, abgeschnitten – und umgekehrt sie natürlich auch von mir. Ich kann zum Beispiel meine regelmässigen Besuche im Altersheim Jakobushaus in Thürnen nicht mehr machen. Eine Ausnahmegenehmigung unter strengsten Hygienemassnahmen und mit Mundschutz wurde abgelehnt. Diejenigen, die alt, alleine und verlassen sind, sind jetzt noch mehr isoliert. Sie leiden sehr darunter. n
Als Pfarrer müsste man in einer Krise eigentlich besonders aktiv werden, ist nun aber quasi zur Untätigkeit «verdammt».
Plattner: Man ist zur körperlichen Distanz gezwungen, soziale Nähe bleibt aber möglich. Wir haben ja zum Glück technologische Möglichkeiten. Auch viele alte Menschen sind längst in der Lage, via Internet zu kommunizieren, und ein Telefon haben sowieso die meisten. Aber das ersetzt natürlich keineswegs den persönlichen Kontakt. Es ist für uns alle eine grosse Herausforderung, mit dieser Situation umzugehen: Wir alle sind wie Aussätzige, die kollektiv zum Hausarrest verdonnert sind.
Sundermann: Allerdings können wir viele alte und einsame Menschen auch nicht mit technologischen Mitteln erreichen. Denken Sie an die Menschen in den geschlossenen Demenzstationen. Sie haben keinerlei Kontakt nach aussen, auch nicht mehr zu den Angehörigen. Das ist eine Isolation, die schwerwiegend und belastend ist.
Gottesdienste, Unterricht, Krankenbesuche: Vieles ist Ihnen derzeit verunmöglicht. Eine Situation für Kurzarbeit für Pfarrer?
Plattner: Diese Krise hat mich selber zu Beginn in grossen Aktivismus und Hektik versetzt. Mittlerweile sehe ich, dass das Rad überall immer langsamer dreht und ich viele Aufgaben nicht mehr gleich wahrnehmen kann. So gesehen ist der Begriff «Kurzarbeit» nicht ganz falsch. Aber als spirituelle Menschen haben wir das grosse Privileg, dass wir uns mit Gebet und guten Gedanken von daheim aus mit den Mitgliedern unserer Gemeinde verbinden können. Ich gehe beispielsweise in die Kirche und bete dort stellvertretend für die Gemeinde. Ich denke, das hilft Menschen, die für solche Dinge eine Antenne haben.
Kurzarbeit im eigentlichen Sinn meldet die Kirchgemeinde für Sie nicht an?
Plattner: Das wurde kantonal diskutiert. Aber wir sind eine öffentlichrechtliche Institution und für uns kann das keine Massnahme sein. Natürlich zahlen wir alle auch in die Arbeitslosenversicherung ein, doch der Staat meldet für seine Lehrer ja auch nicht Kurzarbeit an. Wir sind in einer privilegierten Position. Es kann nicht sein, dass wir jetzt Gelder abholen, die nun von den KMU viel dringender gebraucht werden.
Sundermann: Es ist richtig, dass wir viele unserer sonstigen Aufgaben wie Unterricht oder Gottesdienst nicht wahrnehmen können. Aber ich arbeite dennoch fieberhaft und fast pausenlos, um den Kontakt mit den Gemeindemitgliedern aufrechtzuerhalten. Ich persönlich bin derzeit am Abend müder, als wenn ich einen normalen langen Arbeitstag gehabt hätte. Diese Situation fordert uns auf ganz besondere Art und Weise. Wir arbeiten, aber wir arbeiten anders.
Plattner: Wir Pfarrer haben immerhin den Vorteil, dass sich unser Berufsstand das «Homeoffice» seit Jahrhunderten gewöhnt ist …
Häufig kann man dieser Tage lesen und hören, dass die Krise die Solidarität unter den Menschen fördere. Ist da etwas dran, oder ist das Wunschdenken?
Sundermann: Es gab und gibt auch Zeichen von Egoismus. Doch ich sehe auch sehr viel Gutes: In unserer Gemeinde wird zum Beispiel mit der Aktion «Zämestoh» in Zusammenarbeit mit anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften Nachbarhilfe organisiert. Man merkt, dass die Menschen bei aller gebotenen räumlichen Distanz zusammenrücken.
Plattner: Ja, die Menschen schauen gut zueinander. Es entstehen in den Quartieren Kontakte, die es zuvor nicht gegeben hat. Da werden plötzlich alte Menschen von der Nachbarschaft versorgt. Das soziale Bewusstsein in unserem Land ist riesig. Wie sich dies hält, falls die Situation lange anhalten sollte, wird sich zeigen. Ich sehe es als Chance an, dass dieses Mit- und Füreinander nachhaltig Wirkung zeigt.
Wird die Krise nicht vor allem die Digitalisierung fördern, die doch eher kalt ist
Sundermann: Im Gegenteil. Ich stelle fest, dass Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit stark hervortreten.
Plattner: Zweifellos wird später ein gigantischer Innovationsschub folgen, auch im Bereich der Kommunikation. Das Persönliche und das Nahe werden aber gestärkt.
Ist das Virus als quasi «virulente» Kritik an der Globalisierung zu verstehen?
Plattner: Das Virus ist ein Stück Natur. Wir Menschen als «Herren der Schöpfung» werden von diesen Kleinstlebewesen infrage gestellt. Die Natur rückt sich tatsächlich gerade ein Stück weit zurecht: Plötzlich schwimmen wieder Delfine in den Häfen in Italien, was vor Kurzem noch undenkbar war, die Luft ist selbst in China plötzlich besser, und Vögel, die man lange nicht mehr beobachten konnte, kehren wieder zurück. Retrospektiv könnte das Virus tatsächlich einmal wie als wegweisendes Korrektiv an unserem Wirtschaftssystem verstanden werden. Man wird künftig diese Wertschöpfungsketten von China nach Basel infrage stellen und sich wieder mehr auf das Regionale besinnen. Wie viel die Globalisierung wert ist, hat man gesehen, als plötzlich überall die Grenzen geschlossen wurden – selbst innerhalb der EU. Im Kopf der Wirtschaftskapitäne, der Politiker und uns allen wird nun etwas zurechtgerückt. Eine Korrektur ist überfällig. Wenigstens ist das meine Hoffnung. Ich freue mich darauf, in fünf oder zehn Jahren lesen zu können, was die Menschen gelernt haben.
Sundermann: Wenn das Virus dafür sorgen sollte, dass sich die Menschen nun einmal hinsetzen und sich überlegen, ob wir tatsächlich so profitorientiert weitermachen sollen wie bisher, könnte das Virus global gesehen positive Nachwirkungen haben.
Die Menschen verhalten sich etwas ähnlich wie das Virus: Sie vermehren sich fast explosionsartig und befallen jede (grüne) Lunge, was der Welt den Schnauf nimmt. Das Virus als Metapher?
Sundermann: Das glaube ich nicht. Das Problem der Überbevölkerung kennen wir schon lange. Die Ausbreitung des Coronavirus gegenwärtig weist zwar die gleiche Entwicklung auf, beides aber hat meiner Ansicht nach nichts miteinander zu tun.
Plattner: Ich sehe das nicht so: Die Menschen haben viel Grossartiges geleistet und werden das auch weiterhin tun. Allerdings dreht die Menschheit seit 50 Jahren dermassen schnell im Hamsterrad, dass dies langfristig nicht gut herauskommen wird. Man wird ganz viele Anstrengungen unternehmen müssen, um vor allem in ökologischer Hinsicht die Situation zum Besseren wenden zu können. Der Mensch ist der grösste Räuber auf unserem Planeten. Nützen wir diese Zeit zum Nachdenken, zur Busse und danach: Innovation.
Zurück in Ihre Kirchgemeinde: Beerdigungen können nur noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Wie schlimm ist das für die Hinterbliebenen?
Plattner: Ich muss bestätigen: Es ist schlimm. Ich habe vorige Woche auch einen Trauerbesuch gemacht, der eigentlich nicht mehr zulässig gewesen wäre. Aber stellen Sie sich vor: Eine Frau, deren Mann soeben verstorben ist und die keine Angehörigen in der Region hat, sitzt alleine in ihrer Wohnung und muss mit ihrer Trauer allein bleiben. Klar, sie kann telefonieren, aber sie kann von niemandem in den Arm genommen werden. Sie muss alleine weinen. Die ganze Nähe, die in diesem Moment so wichtig wäre, fehlt total. Gleichzeitig muss man eine Beerdigung planen, an der nur ein allerengster Kreis teilnehmen darf. Wen einladen, wen ausladen? Alleine das ist für Hinterbliebene eine sehr belastende Situation.
Würden Sie sich wünschen, dass mehr Personen zu einer Beerdigung zugelassen werden?
Plattner: Wir haben vergangenen Sonntag die Meldung vom Kanton erhalten, dass nur noch fünf Teilnehmer an einer Beerdigung erlaubt sind. Der Pfarrer, der Friedhofsgärtner und noch drei Angehörige – that’s it. Ja was ist, wenn ein Mann beerdigt wird, der eine Frau und drei Kinder hinterlassen hat? Wer darf dann ans Grab, und wer muss sich irgendwo hinter einem Busch verstecken? Bei allem Verständnis für Massnahmen gegen das Virus, aber das ist unhaltbar! Die Vorschrift wurde falsch interpretiert. Bei Beerdigungen sind Stand heute bis zu 20 Trauergäste möglich. Gerade in Sissach ist das völlig problemlos: Die Feier findet draussen auf dem Friedhof statt, man kommt sich nicht zu nahe, alle sind hoch diszipliniert.
Sundermann: Für Angehörige ist es ungeheuer wichtig, dass sie gut und in einem angemessenen Rahmen Abschied nehmen können. Das beginnt wie schon gehört beimTrauergespräch. Heute nehmen die ganzen organisatorischen Dinge wegen des Virus einen grossen Raum bei diesen Gesprächen ein. Man spricht darüber, wen man alles nicht einladen darf, und man spricht über den Sicherheitsabstand. Die Trauer kommt zu kurz. Auch die Trauerfeier selbst wird durch diese organisatorischen Dinge stark beeinträchtigt.
Hatten Sie bereits mit Corona-Todesfällen zu tun?
Plattner: Es gibt in Sissach einige Krankheits-, aber keine Todesfälle.
Würde ein solcher Todesfall als besonders schlimm empfunden?
Sundermann: Für Hinterbliebene könnte die Situation schon speziell sein. Da könnten auch Schuldgefühle eine Rolle spielen, wenn sich jemand für die Ansteckung verantwortlich fühlt.
Werden vor allem die alten Menschen bei längerer Dauer der Krise und der Isolation über kurz oder lang an Lebensmut verlieren?
Plattner: Es ist zu früh, um das beantworten zu können. Ich habe bisher drei Phasen beobachtet: Zuerst herrschte Ungläubigkeit, dann folgte eine Phase des Widerstands. Viele fanden: «Geht’s noch, ich lasse mich doch nicht bevormunden; lieber sterbe ich an diesem Virus, als mich isolieren zu lassen.» Mittlerweile stellt man fest, dass sich die Menschen mit den Gegebenheiten arrangieren. Bei vielen älteren Menschen herrscht aber Trauer speziell darüber, dass sie ihre Enkel nicht mehr sehen oder hüten dürfen. Das ist heftig. Da fühlen sich Senioren noch mehr entwertet als ohnehin schon – man gehört noch mehr zum alten Eisen. Man nimmt ihnen weg, was Struktur und Lebenssinn gibt. Das wird für viele zunehmend zur psychischen Belastung. Ich hoffe, dass der Bundesrat sich dieses Aspekts bewusst ist, wenn er über die Verlängerung der Massnahmen entscheidet.
Sundermann: Die Menschen haben weiterhin viel Lebensmut, aber sie leiden unter der Isolation. Ich habe kürzlich bei einem Rekonvaleszenten einen Besuch gemacht und habe zu seinem Schutz eine Maske angezogen. Er hat gesagt, ich solle sie bitte herunternehmen. Ihn besuche im Normalfall nur die Spitex und er sehe schon drei Mal täglich nur Mundschutz – und keine Gesichter mehr. Ich habe die Maske heruntergenommen. Ich gehöre ja nicht zum medizinischen Personal, bin Seelsorger und muss mithelfen, dass das Gefühl der Isolation nicht übermächtig wird.
Plattner: Viele Menschen sitzen vor dem Fernseher und verfolgen jede Zuckung dieser Krise. Solcher Medienkonsum ist eine Katastrophe! Das belastet einen brutal; vor allem auch, wenn man sich mit niemandem darüber austauschen kann. Ich empfehle, nur einmal täglich die TV-Nachrichten zu schauen oder zu lesen. Wenn schon Fernsehen, dann sollen die Leute «Arte» einschalten …
Ostern naht, der wohl wichtigste Termin für Christen im Jahr. Wie wird Ostern in diesem Jahr?
Sundermann: Auf jeden Fall speziell. Wir suchen neue Wege, um mit der Gemeinde in Kontakt zu treten. Wir haben nun einen Ostergruss verfasst, den wir allen Mitgliedern der Kirchgemeinde zukommen lassen, dazu werden wir Gottesdienste aufzeichnen, die dann an Karfreitag und Ostern online gestellt werden. Das sind zwar neue Formen, aber es passiert immerhin etwas.
Plattner: Nicht nur wir Kirchgemeinden haben an Ostern spezielle Rituale – das haben alle. Jede Familie und jeder Einzelne muss in diesem Jahr Ostern neu denken.
Irgendwann wird die Krise vorbei sein. Machen Sie sich schon Gedanken darüber, wie Sie den ersten Gottesdienst in der Kirche gestalten werden?
Sundermann: Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich nutze heute die Spielräume, die mir das Gesetz lässt, und feiere auch in dieser Situation zum Beispiel heute ein Abendgebet in der Kirche (das Gespräch fand am Mittwoch statt). Einfach nur mit fünf Leuten – unter Einhaltung aller Regeln. Es gibt Gläubige, die mit diesem Wunsch an mich herantreten, dann erfülle ich ihn auch.
Vor 100 Jahren tobte hier die Spanische Grippe. Als sie vorbei war, kam das grosse Feiern: Die Roaring Twenties. Erwartet uns nach der Krise auch so etwas?
Plattner: Nein. Ich denke, es wird Dankbarkeit und eine neue Nachdenklichkeit einkehren. Ich habe die Erwartung, dass man bei den Planungen all der vielen Anlässe und Feste vorsichtiger wird. Ich könnte mir vorstellen, dass es künftig weniger Grossanlässe geben wird. Wir merken vielleicht, dass wir all die vielen Veranstaltungen gar nicht wirklich brauchen. Ich nehme da die Kirche nicht aus: Es gibt mittlerweile so viele Adventskonzerte, dass man gar nicht mehr weiss, welches man besuchen soll. Ich erwarte eine gewisse reinigende Wirkung.
Sundermann: Ich denke auch nicht, dass die Menschen jubelnd durch die Strassen ziehen werden, sondern einfach zufrieden sein werden, dass es überstanden ist. Sie werden die Normalität geniessen.
Nach Katastrophen wandelt sich zuweilen auch das Gottesbild. Welchen Einfluss erwarten Sie?
Sundermann: Wir hatten es zu Beginn des Gesprächs davon: Ich denke, dass wir die Botschaften des Alten Testaments relativieren müssen – uns lösen vom Bild des strafenden Gottes. Wir werden uns noch mehr dem Neuen Testament zuwenden: Mit Jesus von Nazareth ist eine neue Menschlichkeit auf die Welt gekommen, es geht nicht mehr um «Auge um Auge» und «Zahn um Zahn». In der Bergpredit steht: Wenn dich jemand nötigt, eine Meile zu gehen, dann gehe doch zwei. Und wenn jemand den Rock von dir haben will, dann gib ihm auch noch den Mantel. Das Neue Testament sagt uns, dass Gott uns liebt, dass er uns aufrichtet,wenn wir niedergeschlagen sind, dass er die Menschen in die Gemeinschaft zurückholt, wenn sie separiert sind. Das sieht man beispielsweise in der Geschichte über die Heilung des Aussätzigen – eine Geschichte, die viel von der jetzigen Situation hat. Wir erkennen: Gott geht an unserer Seite und begleitet uns. Er ist für uns da – auch gegen alle Widrigkeiten der Natur wie diese Pandemie.
Plattner: Ich kann das nur unterstreichen. Wir sind stark fixiert auf die Archetypen im Alten Testament. Das sind Bilder, die tief ins uns drinnen haften, auch in mir. Das Neue Testament ist zwar 2000 Jahre alt, doch die Botschaft Jesu hat noch viel Potenzial – auch unter Christinnen und Christen.
Zu den Personen
tho. Matthias Plattner (58, links) und Gerd Sundermann (56) sind Pfarrer bei der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Böckten-Diepflingen-Itingen-Thürnen. Gerd Sundermann ist seit 16 Jahren im Amt, Matthias Plattner seit 14 Jahren.