«Um 22 Uhr hiess es plötzlich: Alarm!»
20.03.2020 Baselbiet, Wenslingen, Gesellschaft, Bezirk SissachErinnerungen an den Aktivdienst. Heute: Ruedi Ritter aus Wenslingen (IV)
Im Mai vor 75 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Die «Volksstimme» hat einstige Aktivdienstler aus dem Oberbaselbiet besucht. Im vierten Teil unserer Serie erinnert sich der Wenslinger Ruedi (Rudolf) ...
Erinnerungen an den Aktivdienst. Heute: Ruedi Ritter aus Wenslingen (IV)
Im Mai vor 75 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Die «Volksstimme» hat einstige Aktivdienstler aus dem Oberbaselbiet besucht. Im vierten Teil unserer Serie erinnert sich der Wenslinger Ruedi (Rudolf) Ritter (97) an seine Zeit an der Grenze.
Aufgezeichnet von Paul Aenishänslin
Die Coronakrise ist derzeit das alles dominierende Thema. Schwierige Zeiten gab es allerdings immer wieder zu überstehen. Daher setzen wir unsere lose Serie über die Zeit vor 75 Jahren auch fort. Das Gespräch von «Volksstimme»-Mitarbeiter Paul Aenishänslin mit Ruedi Ritter fand Ende Januar im Dreigenerationenhaus von Ruedi (Grossvater), Max (Sohn) und René (Enkel) Ritter in Wenslingen statt: « «Ich habe noch genaue Erinnerungen an den 31. August
1939: Mit meinem Vater war ich als 16-Jähriger auf einem Feld nahe des elterlichen Hofs Rotmatt am Arbeiten. Da heulte die Sirene im Dorf Buus. Mein Vater liess die Hacke fallen und sagte zu mir: ‹Ich muss sofort nach Hause. Ich muss in den Aktivdienst einrücken.›
Gesagt, getan. Ab dem 1. September 1939 musste meine Mutter zusammen mit ihren vier Kindern (mein Bruder im Alter von 18 Jahren, ich und meine zwei jüngeren Schwestern) den Hof allein bewirtschaften. 1941 musste auch mein älterer Bruder in die Rekrutenschule einrücken und leistete dann ebenfalls Aktivdienst.
Hoch zu Ross?
Im Sommer/Herbst 1943 absolvierte ich die Rekrutenschule in Aarau. Als Erinnerung daran kann ich noch zwei Postkarten zeigen. Nachher wurde ich sofort in die Kavallerie-Dragoner-Schwadron 28 eingeteilt. Nach nur acht Tagen Urlaub musste ich bereits im November 1943 in Sursee (AG) in den Aktivdienst einrücken und kam dann in die Gemeinde Möriken, wo ich zusammen mit meinen Kollegen in einer Turnhalle (wir schliefen auf dem Stroh in Uniform) einquartiert wurde. Die Schwadron war mit Karabinern ausgerüstet. Was aber für uns Neulinge in der Schwadron, die soeben die Rekrutenschule bestanden hatten, fehlte, waren Pferde.
Die Einfuhr von Irländern, mit der die Schweizer Kavallerie ausgerüstet war, war kriegsbedingt zum Erliegen gekommen. Die Irländer waren Halbblut-Pferde von relativ grossem Wuchs und guten Eigenschaften. Nur die Offiziere sowie die älteren Dragoner meiner Schwadron, die vor dem Krieg noch ein Militärpferd («Eidgenoss») hatten kaufen können, hatten Pferde zur Verfügung. Bei meinem ersten Aktivdiensteinsatz von 31 Tagen diente ich als Offiziersordonnanz. Ich musste auch gut zum Pferd meines Vorgesetzten schauen, was mir als Bauernsohn durchaus zusagte.
Mein zweiter Aktivdiensteinsatz im Januar und Februar 1944 erfolgte in Seengen (AG), und diente mangels Pferden insbesondere der Gefechtsausbildung. Unsere Schwadron erhielt sogar Velos, also Stahlrösser, zur Fortbewegung.
Es war Winter und es hatte viel Schnee. Mein dritter Aktivdiensteinsatz fand wiederum im Aargau statt, im März 1944. Der vierte Aktivdiensteinsatz im August und September 1944 ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Wir mussten in Cressier (NE) einrücken. Als einer der Jüngsten der Schwadron erhielt ich am Wochenende keinen Urlaub. Am Sonntagabend, als alle Angehörigen der Schwadron 28 wieder vollzählig eingerückt waren, hiess es um 22 Uhr plötzlich: «Alarm!» Die ganze Truppe musste sich gefechtsbereit machen, und von Cressier Richtung Jura aufbrechen, mit allem Sack und Pack.
Dieses Mal hatte ich zumindest ein Ersatzpferd zur Verfügung. Die Gewehre wurden mit scharfer Munition geladen. Die Schwadron ritt die ganze Nacht bis vier Uhr morgens. Im Pruntruterzipfel angekommen, wurden wir Kavalleristen auf mehrere Dörfer nahe der Grenze zu Frankreich verteilt. Unsere Aufgabe war es nun, Patrouillen entlang der Grenze durchzuführen, hoch zu Ross, mit geladenem Karabiner.
Die Angst bestand unsererseits, dass verstreute deutsche Truppeneinheiten versuchen könnten, über die Grenze in die Schweiz zu gelangen, auf der Flucht vor dem alliierten Vormarsch, der am 6. Juni 1944 in der Normandie seinen Anfang genommen hatte. Ich kann nur von einem einzigen seltsamen Vorfall berichten, den meine Schwadron damals auf einem Patrouillengang erlebte, ohne dass ich selbst dabei war: Plötzlich waren Schüsse zu hören. Unsere Pferde und ihre Reiter erschraken. Dann wagten sich einzelne Dragoner, die von ihrem Pferd abgestiegen waren, vorsichtig durch das Gebüsch vor, die Waffe schussbereit in der Hand. Doch was sahen sie dann? Zwei betrunkene Schweizer Grenzwächter, die zum Jux in die Luft geschossen hatten …
Bei diesem Einsatz im Pruntruterzipfel hatte ich zum ersten und letzten Mal richtig Angst, es könnte doch zum Ernstfall kommen – zur direkten Konfrontation mit dem deutschen Feind. Doch zum Glück fand kein solcher Feindkontakt je statt, solange ich im Aktivdiensteinsatz in den Jahren 1943/1944 war.
Hoffen auf die Alliierten
Was ich empfunden habe, als ich gegen Ende 1943 in den ersten Aktivdienst einrücken musste? Dies war damals einfach Pflicht. Wir haben uns als junge Kavalleristen keine besonderen weiteren Gedanken gemacht. Doch waren wir in jener Zeit von einem gewissen patriotischen Gefühl erfüllt. Wir fanden es richtig, dass sich die Schweiz gegen eine mögliche deutsche Invasion von Nazi-Deutschland verteidigt. General Guisan wurde von uns hoch verehrt. Wir kannten auch seine Reduit-Strategie, welche die Logik hatte, den Achsenmächten jeden Durchmarsch über die Schweizer Alpen zu verwehren. Wir wussten damals auch schon, dass die Alliierten wahrscheinlich den Krieg gewinnen würden.
Wir wurden über das europäische Kriegsgeschehen in West und Ost durch die Zeitungen und das Radio informiert. Die Deutschen genossen bei uns überhaupt keine Sympathie, hingegen die Alliierten – insbesondere die Briten und Amerikaner – schon.
Viele Kavalleristen unter uns waren aber Bauernsöhne und nicht glücklich darüber, überhaupt Aktivdienst leisten zu müssen. Wir fehlten ja unseren Eltern und Geschwistern zu Hause auf dem Bauernhof. Dies trübte des Öfteren unsere Stimmung.
An den 8. Mai 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, kann sich mich nicht besonders gut erinnern. 1945 habe ich ja keinen Aktivdienst mehr leisten müssen. Ich war einfach froh, wie alle Schweizerinnen und Schweizer, dass dieser furchtbare Krieg vorbei war, und die Schweiz zum Glück von ihm verschont geblieben ist, als neutrales Land mit grosser Milizarmee und starkem Wehrwillen. Allerdings frage ich mich heute, als alter Mann, der im Februar 2020 zum Glück noch bei leidlich guter Verfassung seinen 97. Geburtstag feiern darf, ob schon damals im Zweiten Weltkrieg unsere Kavallerie im Einsatz ausserhalb eines bergigen Geländes – insbesondere der Alpen und des Juras – noch ihre Berechtigung gehabt hatte. Im eher flachen Gebiet des Pruntruterzipfels («Plaine Mattemberg», heute «Mattembert») hätten wir ja hoch zu Ross gegen eine motorisierte deutsche Einheit, beispielsweise gegen Panzer, überhaupt keine Chance gehabt.
Gute Kameradschaft
Gefallen hat mir am Aktivdienst besonders die gute Kameradschaft unter uns Dragonern, die in den späteren Wiederholungskursen der Schwadron ihre Fortsetzung gefunden hat. Auch finde ich heute noch, dass wir von den Offizieren meiner Schwadron gut behandelt worden sind. Für meinen Leutnant, der aus Wenslingen stammte, wäre ich durchs Feuer gegangen. Die Verpflegung im Aktivdienst war gut, viel besser als in meiner Rekrutenschule 1943 in Aarau. Am wenigsten hat mir im Aktivdienst das Wachestehen gefallen. Da hatte ich nachts oft kalt, gerade auch an den Füssen, insbesondere im Winter mit viel Schnee.
Nach dem Krieg konnte ich 1946 einen «Eidgenoss» kaufen, also ein Militärpferd (Irländer) mit eigenem Dienstbüchlein, der damals sechs Jahre alt war und 500 Franken kostete, was der Hälfte des offiziellen Schätzpreises entsprach. Meine Stute namens Kunigunde ist dann später noch ziemlich oft in den Militärdienst eingerückt, zusammen mit mir. Sie wurde 28 Jahre alt. Kunigunde musste auch jedes Jahr zu besonderen Trainings einrücken, um ihre Diensttauglichkeit zu bewahren. Dies bot mir ebenfalls die Möglichkeit, mit vielen meiner Schwadron-Kameraden vom Aktivdienst den Kontakt und die Freundschaft zu pflegen. Gerne erinnere ich mich auch an die vielen Springkonkurrenzen, an denen ich mit meinem Militärpferd teilnahm.
Nach dem Krieg
1949 heiratete ich Marta, die ich damals noch im Krieg an einem Tanzanlass in Wenslingen kennengelernt hatte. Selbst stammte ich ja ursprünglich aus Buus, ich konnte dann aber mit Marta den Hof ihrer Eltern – sie hiessen Buess – in Wenslingen übernehmen.
Es freut mich, dass ich immer noch im eigenen Haus leben darf, mit 97 Jahren, und sogar noch berechtigt bin, Auto zu fahren. Ich lebe im Parterre, mein Sohn Max mit seiner Familie im ersten Stock und mein Enkel René mit seiner Familie im zweiten Stock. Ich habe auch schon Urgrosskinder. An « meine Aktivdienstzeit 1943/44 denke ich hie und da noch zurück, im positiven Sinn, ohne aber diese Zeit zu glorifizieren.»
Bisher erschienen: Max Utiger, Sissach (30. Januar), Hans und Adèle Gysin, Läufelfingen (7. Februar), Paul Krattiger (14. Februar). Gibt es weitere Aktivdienstler aus dem Oberbaselbiet, die ihre Geschichte erzählen wollen? Bitte melden Sie sich unter redaktion@volksstimme.ch oder 061 976 10 30.