Auf den Spuren einer Wäscherin
20.02.2020 RatgeberLesetipp | Benedikt Meyer: «Nach Ohio»
Die Tochter eines Trinkers und einer Wäscherin emigriert aus dem Baselbiet nach Amerika. 125 Jahre später macht sich ein Urenkel auf, ihre Spuren zu entdecken.
Andreas Leugger
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Lesetipp | Benedikt Meyer: «Nach Ohio»
Die Tochter eines Trinkers und einer Wäscherin emigriert aus dem Baselbiet nach Amerika. 125 Jahre später macht sich ein Urenkel auf, ihre Spuren zu entdecken.
Andreas Leugger
Nach Oberwil im Leimental dringt allmählich die Moderne, die Birsigtalbahn befördert neu die Arbeiter in die Stadt Basel und bringt von dort Rohstoffe und Güter für Gewerbe und Bewohner. Am Sonntag fährt sie Stadtbewohner ins Dorf, die auf dem Eisweiher Schlittschuh laufen und sich im Caféhaus vergnügen. Trotzdem träumt die 16-jährige Stephanie, die Tochter eines Trinkers und einer Wäscherin, davon, nach Amerika auszuwandern. Ihre Tante ist dort Farmerin und braucht eine Haushalthilfe. Aber erst zwei Jahre später kann sich Stephanie aus der familiären Enge befreien und die lange Reise auf der «Westerland» antreten: nach Ohio.
In Defiance tritt sie die Stelle als Köchin bei einer Schweizer Arztfamilie an. Für Stephanie eröffnet sich eine neue Welt, die sie staunend zur Kenntnis nimmt: Die Landschaft erscheint unendlich, und dort wachsen Dinge, die ihr unbekannt sind. Sie versteht weder die englische Sprache noch die amerikanischen Gewohnheiten, es gibt elektrischen Strom und eine damit betriebene Strassenbahn, Mädchen dürfen mit den neumodischen Fahrrädern auf den Strassen herumkurven und studieren – auch schwarze. Es gibt viel zu sehen und zu entdecken, aber da sind auch immer das Heimweh und das Fehlen der Familie, von festen sozialen Banden.
Als Stephanie sich endlich ein wenig eingelebt hat, stirbt der Arzt und seine Frau und Kinder reisen in die Schweiz zurück. Was soll Stephanie machen? Bleiben oder auch zurückkehren? Liegt ihre Zukunft in Amerika oder in Europa? Sie weiss es selbst nicht und ist hin und her gerissen, aber als Versagerin will sie nicht heimkehren.
125 Jahre später macht sich ihr Urenkel auf, ihren Spuren zu folgen und die Geschichte von Stephanie zu erzählen. Er schifft sich auf einem Containerriesen ein und fährt mit dem Fahrrad von New York nach Ohio und anschliessend quer durch die USA nach Kalifornien.
«Wie es hätte sein können»
Die Erzählungen über seine Urgrossmutter hatten ihn schon als Jungen interessiert, aber alte Tonbandaufzeichnungen eines Radiointerviews mit der 91-jährigen Stephanie erweckten seine Neugier endgültig: «Konnte ich die Leerstellen füllen? Konnte ich herausfinden, was Stephanie wirklich erlebt hatte? Es begann als Spielerei», schreibt er im Buch.
Und das bleibt es bis zu einem gewissen Grad, denn Benedikt Meyer schreibt kein Geschichtsbuch, sondern einen Roman, bei dem der Autor nicht der Ich-Erzähler ist und Leerstellen mit «wie es hätte sein können» ausgefüllt werden. Dabei beruht die Erzählung auf sorgfältigen Recherchen und Auswertungen von zahlreichen historischen Dokumenten. Das Ergebnis ist ein spannender Abenteuerroman, ein Roadmovie, aber auch ein Zeitdokument, anschaulich, genau und zügig erzählt. Zusätzlich illustrieren einige Fotos die Erzählung.
Benedikt Meyer liest am Dienstag, 17. März, um 20 Uhr, im Buchantiquariat Loose-Rede-Läse im «Cheesmeyer-Huus» in Sissach.
«Nach Ohio», Benedikt Meyer, Zytglogge, Basel 2019
Secondhand Bücher Antiquariat, Verein loose, rede, läse, Hauptstrasse 55, Sissach.