«Auf diesen Einsatz bin ich heute noch stolz»
14.02.2020 Bezirk WaldenburgErinnerungen an den Aktivdienst. Heute: Paul Krattiger aus Oberdorf (III)
Im Mai vor 75 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Die «Volksstimme» hat einstige Aktivdienstler aus dem Oberbaselbiet besucht. Im dritten Teil unserer Serie erinnert ...
Erinnerungen an den Aktivdienst. Heute: Paul Krattiger aus Oberdorf (III)
Im Mai vor 75 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Die «Volksstimme» hat einstige Aktivdienstler aus dem Oberbaselbiet besucht. Im dritten Teil unserer Serie erinnert sich der Oberdörfer Paul Krattiger (96) an die Zeit, als er nach feindlichen Flugzeugen Ausschau halten musste.
Aufgezeichnet von Paul Aenishänslin
Das Gespräch von «Volksstimme»-Mitarbeiter Paul Aenishänslin mit Paul Krattiger fand am 21. Januar 2020 im Alters- und Pflegeheim Gritt in Niederdorf statt:
\"Am 1. September 1939, dem Tag, an dem der Bundesrat die Kriegsmobilmachung beschloss, befand ich mich als Fünfzehnjähriger auf dem Platz vor dem alten Schulhaus in Oberdorf, zusammen mit vielen anderen Dorfbewohnern. Die Kirchenglocken läuteten. Der Dorftrommler trat in Aktion. Dann trat der Gemeindeverwalter vor. Er verlas mit ernster Stimme den Beschluss des Bundesrats zur Kriegsmobilmachung. Als er fertig war, senkte sich eine totale Stille über den Platz. Kein Laut war zu hören, nicht einmal das Bellen eines Hundes. Die Dorfbewohner versuchten, die soeben gehörte Mitteilung zu verarbeiten. Erst nach einigen Minuten ging diese gespenstige Stille zu Ende, und alle auf dem Platz versammelten Einwohner begannen wie wild miteinander zu reden.
Jeder Bewohner der Gemeinde gab seinen Gefühlen Ausdruck. Die Hauptfrage war, wie zu erwarten, welche Folgen der Beschluss des Bundesrats zur Kriegsmobilmachung für jeden Einzelnen haben würde.
Die wehrfähigen Männer mussten innert 24 Stunden zum Besammlungsort ihrer Truppe einrücken. Deren Frauen und Kinder machten sich natürlich Gedanken, wie sie den Hof oder Betrieb ohne den Ehemann oder Vater über die Runden bringen könnten, der für längere Zeit von zu Hause abwesend sein würde. Für meinen Vater, der damals Gemeindepräsident von Oberdorf war, kam die Kriegsmobilmachung nicht überraschend. Er hatte schon Tage zuvor vom Militärdepartement des Kantons beziehungsweise des Bundes Plakate zugeschickt bekommen, in denen die Befehle zu dieser Generalmobilmachung bereits im Detail enthalten waren. Die Plakate mussten nun nur noch ausgehängt werden.
Bereit für Rückzug ins Réduit
Von 1939 bis 1943 absolvierte ich bei der Firma Revue Thommen AG in Waldenburg eine vierjährige Lehre als Feinmechaniker. Ich wurde im Instrumentenbau eingesetzt. Ich erinnere mich noch daran, dass zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939/40 die Furcht bestand, die Deutschen könnten bei einem Angriff auf Frankreich die Maginot-Linie im Süden über Basel und die Burgunderpforte umgehen. Kein Wunder, dass zu Kriegsbeginn viele Basler mit Kind und Kegel und ihrem Hausrat per Auto in die Innerschweiz geflüchtet sind, aus Angst vor einer deutschen Invasion.
In der Revue Thommen AG, die kriegswichtige Güter herstellte wie die Cockpitausrüstungen für Schweizer Kampfflugzeuge (Höhenmesser und viele andere Instrumente) sowie Fahrgestelle, wurde alles vorbereitet, um von einem Tag auf den anderen die für die Herstellung benötigten Maschinen ins Réduit, also in die Schweizer Alpentäler, verlegen zu können. Die dazu benötigten Kisten standen schon bereit. Sie mussten nicht eingesetzt werden, da die Deutschen dann 1940 ihren Angriff auf Frankreich über Holland und Belgien vorantrieben, also nördlich der bestehenden Maginot-Linie, und nicht südlich von ihr über Basel und das Burgund.
Horch- und Scheinwerferposten
Von Januar bis Mai 1944 absolvierte ich in Payerne eine verkürzte Rekrutenschule bei der Fliegerabwehr-Scheinwerfertruppe. Dann kam ich ab Juni 1944 bereits in den Aktivdiensteinsatz, vor allem auf dem Zelglihof bei Kaiseraugst. Dort verbrachte ich mehrere Monate im Winter 1944/45, der besonders hart und schneereich war. Auf dem Zelglihof betrieben wir 15 Mann – befehligt von einem Wachmeister – einen Horch- und Scheinwerferposten zum Aufspüren von feindlichen Flugzeugen im Grenzgebiet zu Grossdeutschland beziehungsweise dem Dritten Reich.
Unsere Ausrüstung bestand aus folgenden Komponenten: Einem grossen, nach allen Richtungen verstellbaren Scheinwerfer, einem Richtgerät zu diesem Riesenscheinwerfer mit Bogenlicht, einem Aggregat zur Stromerzeugung (das mit Flugbenzin betrieben wurde), einem Hörgerät (um das Motorengeräusch von Flugzeugen aufzufangen) und einer Telefonanlage samt zugehörigen Kabeln. Die Kabel verbanden uns mit der kilometerweit von unserem Beobachtungsposten gelegenen Kommandozentrale sowie mit der Flab-Geschützstellung, die sich in der Mitte von mehreren Horch- und Scheinwerferposten wie dem unsrigen befand. Dort war man im 24-Stunden-Betrieb schussbereit.
Unser Posten beim Zelglihof befand sich auf einer Anhöhe mit Sicht auf alle Seiten. Wir kamen dort jeweils während dreier Stunden als Wache zum Einsatz: Ein Soldat war am Hörgerät, ein Soldat beim Scheinwerfer und ein dritter kümmerte sich um das Stromaggregat, das immer laufen musste. Ein vierter Soldat stellte die Kommunikation mittels Feldtelefon sicher.
Zur Landung gezwungen
Als ausgebildeter Feinmechaniker wurde ich für das Verlegen der Telefonkabel und den Betrieb der Telefonanlage eingesetzt. Es war ja von zentraler Wichtigkeit, dass ein durch das Hörgerät und den Scheinwerfer in 1000 oder 2000 Metern Höhe aufgespürtes feindliches beziehungsweise unbekanntes Flugzeug sofort der Kommandozentrale und der Flab-Geschützstellung gemeldet wurde. Der allfällige Einsatz der Flab-Kanonen wurde nicht etwa durch uns als Beobachtungsposten entschieden, sondern durch die Kommandozentrale, die auch mit der Schweizer Luftwaffe in ständiger Verbindung stand.
Zum Glück ist mir kein Ernstfall bekannt, bei dem unsere Fliegerabwehrstellung ein feindliches Flugzeug vom Himmel geholt hat. Aber es kam vor, dass die Schweizer Luftwaffe dann und wann ein feindliches oder fremdes Flugzeug, das sich in den Schweizer Luftraum verirrt hatte, zur Landung in der Schweiz zwang, unter Internierung seiner Besatzung und Ausserbetriebsetzung dieses Flugzeugs.
Unterkunft im Schweinestall
Um das mehrstündige Wachestehen beim Hör- und Scheinwerferposten etwas angenehmer zu machen, bauten wir Soldaten selbst ein kleines Holzhaus, das auf einer Seite offen war und uns Schutz gab vor Regen, Schneefall und Kälte.
Auf dem Zelglihof hatten wir einen stillgelegten Schweinestall als Unterkunft, der teils zu einem recht gemütlichen Aufenthaltsraum umgebaut worden war, ausgerüstet mit einem Ofen und einem ausgeliehenen Radio. Im angrenzenden Schlafraum schliefen wir auf Holzpritschen im Stroh, in der aufgeknöpften Uniform, mit Hose und Militärschuhen. Den Karabiner hatten wir stets an unserer Seite. Mit dem Kaput und zwei Wolldecken deckten wir uns zu.
In dieser Unterkunft gab es auch einen Holzofen. Das Holz wurde uns als ganze Ster durch die Armee angeliefert. Ich erinnere mich an den Neujahrsmorgen 1945, an dem ich damit beschäftigt war, einen solchen Ster Holz zu zersägen und zu spalten. Da kam der Zelglibauer auf mich zu und fragte mich, ob ich an einem solch hohen Feiertag eigentlich keine bessere Beschäftigung hätte. Aber wir mussten ja froh sein, dieses Holz für den Holzofen im Stall überhaupt zu bekommen.
Eine Küche hatten wir nicht. Das Mittagessen erhielten wir jeweils in einer Kochkiste, die wir in einer Armeeküche in Kaiseraugst am späten Vormittag abholen mussten. Dafür schlittelten zwei Mann unserer kleinen Truppe den Abhang hinab nach Kaiseraugst – mit einem Davoser-Schlitten. Die Kochkiste musste dann auf dem Schlitten wieder den Hang hinaufgezogen werden. Eine Strecke von immerhin einigen Kilometern. In diesem harten Winter 1944/45 war ja genug Schnee vorhanden, um auch einem kleinen Schlittelvergnügen zu frönen. War das Mittagessen dann angekommen, konnten wir es dank der hilfsbereiten Küche des Zelglibauern aus Tellern mit Besteck, anstatt – wie sonst üblich – aus der Gamelle essen.
Patriotischer Geist
Ich habe gute Erinnerungen an meine Kameraden, mit denen ich auf dem Horch- und Scheinwerferposten bei Kaiseraugst und anderswo im Aktivdienst im Einsatz war. Das Gleiche gilt für unsere Vorgesetzten, die uns korrekt behandelt haben. Insgesamt habe ich eigentlich gerne Aktivdienst geleistet. Er dauerte viele Monate lang in den Jahren 1944 und 1945.
Ich war von einem patriotischen Geist erfüllt. Ich fand es wichtig, dass sich die Schweiz selbst verteidigt und keinen fremden Eindringling, und schon gar nicht die arrogant auftretenden Deutschen, ins Land lässt, ohne sich zuvor energisch zu wehren.
Zum Glück ist dieser Ernstfall dann nie eingetreten. Die wehrbereite Schweiz ist vom Krieg verschont geblieben.
Tag des Friedens – und der Liebe
Der 8. Mai 1945, der Tag des offiziellen Endes des Zweiten Weltkriegs für unser Land, ist mir bis heute in besonderer Erinnerung. Wieder läuteten in der Schweiz überall die Kirchenglocken, auch im Baselbiet. Ich war an diesem grossen Tag schon nicht mehr im Aktivdienst. Ich spielte in Oberdorf in einer Musikkapelle die Trompete. Wir traten vor einem der Restaurants unseres Dorfs auf. Zum Dank erhielten wir vom Servicepersonal dieses Gasthauses Gratisbier. Die junge Serviertochter, die mir an diesem denkwürdigen Tag das Bier brachte, stammte aus Grafenort, dem hintersten Dorf im Engelbergertal. Sie gefiel mir – und ich ihr. Ein Jahr später waren wir ein Paar und heirateten dann auch bald. Mit ihr zusammen hatte ich zwei Söhne und eine Tochter. Heute habe ich als bald 96-Jähriger zahlreiche Nachkommen: 3 Kinder, 5 Grosskinder, 6 Urgrosskinder und bisher 1 Ururgrosskind, das im Vorjahr auf die Welt gekommen ist.
Ich selber war das dritte Kind von fünf. Nach dem Krieg habe ich Karriere gemacht, und ich habe mich bis zum Betriebsleiter und zum Chef einer eigenen Firma im Feinmechanikbereich emporgearbeitet. Diese von mir gegründete Firma bestand bis Ende 2019, sie ist jetzt verkauft. Ich war für die Gemeinde Oberdorf als Gemeinderat während 10 Jahren und als Schulpflegepräsident tätig. Heute freue ich mich noch am guten Kontakt mit meinen Nachkommen und führe ein ruhiges Leben. Ich kann mich nicht beklagen. Ich habe den ganzen wirtschaftlichen Aufschwung des Waldenburgertals miterlebt, und auch den späteren wirtschaftlichen Abschwung, der leider bis heute andauert.
Guter Patriot
Zum Schluss möchte ich vier Dinge erwähnen: Vor meiner Rekrutenschule 1944 und meinem Aktivdienst 1944/45 war ich in der Ortswehr in Oberdorf eingeteilt. Ich war mächtig stolz darauf, als Jungschütze bereits über ein Langgewehr aus dem Jahr 1889 verfügen zu dürfen. Auch diese Ortswehr war militärisch organisiert. Beispielsweise ging es darum, eine vertrauliche Meldung, die unser Ortskommandant in Oberdorf aus Liestal erhalten hatte, als Meldeläufer auf Schleichwegen zum Beispiel nach Eptingen zum dortigen Kommandanten der Ortswehr zu bringen.
Zweitens erinnere ich mich daran, dass wir im Aktivdienst mit 48 Schuss scharfer Munition unterwegs waren, wenn wir in den Urlaub gingen. Davon ein Schuss bereits im Lauf des Karabiners. Auch mussten wir die Ausrüstung in den Urlaub mitnehmen, den vollbepackten Tornister, um bei einer möglichen neuen Teilmobilmachung, für die wir per Telegramm aufgeboten worden wären, ohne Verzug wieder in den Aktivdienst einzurücken.
Drittens hat es mich noch nach dem Krieg befremdet, dass es in der Schweiz, auch im Baselbiet, einflussreiche Persönlichkeiten gab – ich erinnere an den ‹Bund der 200› –, die sich als ‹Fröntler› für einen Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland eingesetzt haben. Als gute Patrioten haben mein Vater und ich dies nie verstanden.
Viertens bin ich heute noch froh und stolz darauf, dass ich mich im Zweiten Weltkrieg im Aktivdienst für eine freie und unabhängige Schweiz eingesetzt habe. Mit Freude betrachte ich noch immer gerne die Ehrenurkunde, die in meiner Oberdörfer Wohnung an der Wand hängt, mit der mir General Guisan nach dem Kriegsende für den als \"Soldat der Flab-Truppe geleisteten Aktivdienst gedankt hat.\"
Bisher erschienen: Max Utiger, Sissach (30. Januar 2020); Hans und Adèle Gysin, Läufelfingen (7. Februar 2020).
Wird fortgesetzt.
Mobilmachung 1939
pae. Vor 81 Jahren, am 1. September 1939, beschloss der Bundesrat die Kriegsmobilmachung. 450 000 Soldaten und 200 000 hilfsdienstpflichtige Männer rückten in den Aktivdienst ein. Innert kürzester Zeit packten sie ihr Gewehr, verabschiedeten sich von der Familie und verliessen Heim und Hof. Innert 24 Stunden musste eingerückt werden. Der Bundesrat traf diesen Entscheid an dem Tag, als Hitlers Truppen in Polen einfielen. Im Protokoll der Bundesratssitzung vom 1. September 1939 steht zu lesen: «Die aussenpolitische Lage hat sich in den letzten Tagen derart zugespitzt, dass es dringend notwendig erscheint, die Sicherheit der Landesgrenzen und den Schutz unserer Neutralität der Armee anzuvertrauen.»
Paul Krattiger
Geburtsjahr: 1924, aufgewachsen in Oberdorf.
Gelernter Beruf: Feinmechaniker, 1939–1943, Revue Thommen Uhrenfabriken (Instrumentenbau und Mechanik), Waldenburg.
Militärischer Grad: Soldat.
Militärische Einteilung: Flab-Scheinwerferkompanie 33.
Rekrutenschule: Januar – Mai 1944, Payerne.
Geleisteter Aktivdienst: Juni 1944 bis März 1945 (10 Monate).
Aktivdienst geleistet: Beim Zelglihof bei Kaiseraugst sowie an verschiedenen Orten entlang des Rheins.
Art des Aktivdienstes: Beobachtung/ Kontrolle des Luftraums im Umkreis einer Flab-Geschützstellung mit Hörgerät und einem starken, schwenkbaren Scheinwerfer für den nächtlichen Einsatz.
Spätere Karriere: Aufstieg zum Betriebsleiter, Gründung einer eigenen Feinmechanikfirma 1975, die 2019 in neue Hände überging. Schulpflegepräsident und Gemeinderat in Oberdorf.