Vergangen ist nicht einfach vorbei
28.11.2019 RatgeberLesetipp | «Die Sterne über Venedig» von Anja Saskia Beyer
Eine Nonna, Venedig, Familie, das tönt nach Liebe und «Dolcefarniente». Aber weit gefehlt, im Roman von Anja Saskia Beyer geht es um viel mehr. Es vermischen sich Gegenwart und ...
Lesetipp | «Die Sterne über Venedig» von Anja Saskia Beyer
Eine Nonna, Venedig, Familie, das tönt nach Liebe und «Dolcefarniente». Aber weit gefehlt, im Roman von Anja Saskia Beyer geht es um viel mehr. Es vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit, zerbrochene Beziehungen und der Zweite Weltkrieg.
Rosmarie Ballmer
Die Sterne über Venedig scheinen, was auch immer unter ihnen passiert. Es geschehen tagtäglich schöne Begegnungen zwischen Menschen, aber auch Unrecht und Leid. Und damals, als der Zweite Weltkrieg in Europa tobte, litten alle unter den Gräueltaten, Männer wie Frauen, Zivilpersonen, Militärs, Deserteure, Partisanen. Ein vielleicht nicht so bekanntes Thema wird im Roman «Die Sterne über Venedig» ganz nahe an den Leser und die Leserin gebracht. Es ist die Nonna, die diese Zeit erlebt hat und aus der Vergangenheit manche Erinnerung mitgenommen hat.
Im Wissen darum, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt, und weil ihr die Missstimmung zwischen ihren beiden Enkelinnen zu schaffen macht, beginnt sie zu erzählen. Sie selbst hat seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Schwester, weiss nicht einmal, ob diese noch lebt.
Fiktion und Wahrheit verwoben
Nonna, Miranda mit Namen, hat die Kriegsjahre in Venedig als junge Frau erlebt. Die Stadt ist unter deutscher Besatzung, der Vater wird an die Front beordert und getötet. Miranda schliesst sich der Resistenza civile an und bringt Informationen, Esswaren und später auch Waffen und Munition in die Berge, wo die Partisanen ihre Verstecke haben. Es beginnt alles mit der Beihilfe zur Flucht ihrer Jugendfreundin Elina, einer Jüdin, und Renzos, eines Italieners, der sich den Deutschen widersetzt. Miranda dient als Stafette, hilft so den Widerstandskämpfern und setzt dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel. Daneben begegnet ihr in Renzo ihre erste grosse Liebe, sie bewundert ihn, er wiederum ist angetan von ihrem Mut.
Die beiden werden ein Liebespaar, wünschen sich das Ende des Kriegs herbei und werden dann für immer getrennt. Miranda wird gefangen genommen, gefoltert und unter Druck gesetzt, den Ort des Verstecks zu nennen. Unter grösster Angst um ihr ungeborenes Kind und in der Hoffnung, dass ihre Freunde in den Bergen von dem misslungenen Anschlag der Partisanen erfahren haben und weitergezogen sind, gibt sie den Standort bekannt. Ihre körperlichen und seelischen Schmerzen sind unermesslich, zudem macht sie ihre Schwester Alessia, die mit einem Deutschen befreundet ist, für den Verrat verantwortlich. Es kommt zum Bruch zwischen den beiden Frauen, und viele, viele Jahre ziehen ins Land, ohne dass sie sich wiedersehen, ohne über das Geschehene gesprochen zu haben, ohne verzeihen zu können. Das Schicksal dieser Frauen in Venedig im Jahr 1943 und den folgenden zieht einen in seinen Bann, bis zur letzten Seite bleibt der Roman spannend. Denn der Leser oder die Leserin findet sich immer in der Gegenwart wieder, die ihre eigenen Sorgen und Nöte bereithält, wenn diese auch nicht so lebensbedrohlich sind. «Die Sterne über Venedig» scheinen heute wie damals und der Roman nimmt uns mit auf eine berührende, erschütternde Reise in die Vergangenheit mit Bezug zur Gegenwart.
Geschrieben hat ihn Anja Saskia Beyer. Neben den Geschichten um die Liebe und deren Folgen hat sie eine eindrückliche Erinnerung an die Resistenza civile in Italien geschaffen. Personen, Orte und Handlungen mögen erfunden sein, die Taten von mutigen Frauen im Widerstand zu Zeiten der Nazis sind recherchiert und lassen sich belegen. Der Autorin ist es hervorragend gelungen, Fiktion und Wahrheit miteinander zu verknüpfen. Der Roman berührt bis tief ins Herz, und die Sterne funkeln weiter.
Anja Saskia Beyer, «Die Sterne über Venedig», Tinte & Feder, 312 Seiten
Rosmarie Ballmer, Schul- und Gemeindebibliothek,
Dorfmattstrasse 6, Oberdorf; 061 961 01 92; gusbib. oberdorf@bluewin.ch; www.bibliothek-oberdorfbl.ch.
Öffnungszeiten der Bibliothek: Montag von 16 bis
18 Uhr, Mittwoch und Donnerstag von 17 bis 19 Uhr.