Bilder-Zyklus dem Zahn der Zeit entreissen
22.11.2019 ZeglingenWenn Rudolf Löws Bilder im «Rössli»-Tanzsaal gerettet werden sollen, ist Eile geboten
Unbemerkt von der Öffentlichkeit ziert im Zeglinger Restaurant Rössli ein Wandbildzyklus den Tanzsaal im ersten Stock. Doch der Zahn der Zeit nagt am erhaltenswerten ...
Wenn Rudolf Löws Bilder im «Rössli»-Tanzsaal gerettet werden sollen, ist Eile geboten
Unbemerkt von der Öffentlichkeit ziert im Zeglinger Restaurant Rössli ein Wandbildzyklus den Tanzsaal im ersten Stock. Doch der Zahn der Zeit nagt am erhaltenswerten Kunstwerk. Jetzt aber zeichnet es sich ab, dass die Bilder restauriert werden.
Jürg Gohl
Die Küche des Restaurants Rössli in Zeglingen geniesst einen ausgezeichneten Ruf. Doch die meisten Gäste aus Basel, der Agglomeration und dem Oberbaselbiet, die sich im Wirtshaus oder im Garten verköstigen, sind sich nicht bewusst, dass sie über eine schmale Treppe im ersten Stockwerk auf ein besonderes «Bijou» stossen: einen Tanzsaal, den die «Rössli»-Besitzerin und -Wirtin Judith Gysin nur für spezielle Anlässe und grössere Gesellschaften öffnet. Zudem finden dort auch Sitzungen und Versammlungen der Vereine aus dem Dorf und der Umgebung statt.
Erbaut wurde der Tanzsaal um 1900, als der Gasthof, der einem Bauernbetrieb angegliedert war, erweitert wurde. Das «Rössli» selber wurde 1772 errichtet, die Jahreszahl ist in einen Stein im Keller eingemeisselt.
Sicher: Solche Tanzsäle von historischer Bedeutung sind auch anderswo im Oberbaselbiet, zum Beispiel in Hölstein, Reigoldswil und Rothenfluh zu finden. In früheren Jahren erfüllten sie den Zweck, für den heute meist Mehrzweckhallen oder Gemeindesäle herhalten: Fasnachtsbälle, Theater, Versammlungen, grössere Gesellschaften oder – der Name verrät es – Tanzanlässe. «Tanzsäle waren das Facebook von gestern», sagt Reto Marti, der Leiter Archäologie und Museen des Kantons, von dem in diesem Zusammenhang auch der Begriff «Bijou» stammt. Der Tanzsaal beherbergte einst auch Soldaten und Kinder aus Basler Sommerferien-Kolonien.
Gleichwohl hebt sich der Zeglinger Tanzsaal von allen anderen ab, weil er von einem bemerkenswerten Wandbild-Zyklus gesäumt ist. Auf der Höhe von 1,90 Metern zieht sich ein Bildsaum durch den ganzen Saal, gemalt vom damals bekannten Basler Künstler Rudolf Löw, der sich oft und gerne in Zeglingen aufhielt. Etwa um 1900 wurde er vom Wirtepaar Eduard und Marie Bider mit dem Zyklus beauftragt. So nimmt man das jedenfalls an.
Bekannte Gesichter verewigt
Die Auftraggeber sind auf dem Zyklus ebenfalls verewigt worden. Aber auch andere Personen wie weitere Dorfbewohner, der Basler Kunstkritiker Hans Trog und weibliche Bekanntschaften des Malers finden sich wieder. Die dargestellten Szenen – Spaziergänge, Hochzeit, Picknick, Fasnacht – spielen sich meist in Landschaften ab, die dem Oberbaselbieter Juragebiet ähneln. Hier ragt eine Fluh in die Höhe, dort blühen Kirschbäume.
Vier breite, friesartige und rund einen Meter hohe Bilder sind auf der Ost- und auf der Südwand aufgetragen. Zusammen sind sie 30 Meter lang und erinnern damit an ein Panorama. Da die anderen beiden Wände von Fenstern unterbrochen sind, hat Löw dort Einzelbilder wie die genannten Porträts des Wirtepaars hingemalt. So waren diese Bilder zeitweise auch von dicken Vorhängen teilweise abgedeckt.
Zudem ist in einem anschliessenden Nebensaal noch ein weiteres grossformatiges Bild von Löw zu finden, das eine Gartenszene zeigt und stilistisch an Löws Solothurner Zeitgenossen Cuno Amiet erinnert. Und auch das berühmte «Déjeuner sur l’herbe» von Eduard Manet würdigt Löw, indem er die Szene mit eigenen Pinselstrichen nachstellt. «Eine grossartige künstlerische Leistung» habe Löw hier hinterlassen, schreibt Letizia Schubiger in einem Beitrag im «Baselbieter Heimatbuch» von 2015.
Die frühere Kunstkuratorin des Kantons befasst sich, seit sie den Wandzyklus in Zeglingen erstmals zu Gesicht bekommen hat, intensiv mit dem Werk sowie seinem Erschaffer. Ihr Beitrag im «Baselbieter Heimatbuch» von 2015 ist der erste Fachartikel zum Bild in Zeglingen, das zuvor in der Szene unbeachtet blieb.
Löw war oft und gerne Gast
Aus Löws Tagebüchern konnte Letizia Schubiger herauslesen, dass der Künstler ein zwiespältiges Verhältnis zu seiner Heimatstadt Basel hatte und deshalb gerne und oft nach Zeglingen reiste. Per Zug ging es bis zur Sommerau, den Rest legte er wandernd zurück. Seine Ferien nutze er dazu, um an seinem Gemälde im «Rössli» zu arbeiten.
Schubiger beschreibt das Kunstwerk als «friesartig verlaufenden Zyklus von Wandbildern mit starker farbiger und erzählerischer Gesamtwirkung». An der Ostwand ist die Signatur des Landschafts- und Porträtmalers sowie die Jahresangabe «1906 –1941» zu entdecken. Letizia Schubiger geht aber davon aus, dass das Werk weit früher abgeschlossen wurde und der Maler hinterher bereits erste Verbesserungen vorgenommen und erste Schäden behoben habe, die dann zur angegebenen, 35 Jahre umfassenden Zeitspanne führten.
Schon damals litten die Bilder offenbar stark unter dem bunten Treiben, unter dem Ausstoss des Holzofens und unter der Qualmerei im Saal. Die Bilder wurden mit Ölfarbe direkt auf einen Untergrund aus Gips aufgemalt, den Löw in der örtlichen Gipsgrube beschafft hatte. Zum Teil sind die einst farbenfrohen Bilder erheblich beschädigt und mit einer Patina überzogen; die Farbschichten bröckeln. Zum Teil sind die Schäden auch auf frühere unsachgemässe Sanierungen zurückzuführen. Sie liegen zum Teil aber auch an der schlechten Statik des Raums.
Finanzen nicht einzige Sorge
Der Leiter der Fachstelle, die sich um die Erhaltung des Kulturerbes im Kanton kümmert, auf den Tanzsaal angesprochen, bezeichnet Löws Zyklus als «wichtiges Kulturdenkmal». Es wäre ausserordentlich schade, wenn das Werk verloren ginge. Von der Idee, es abzulösen und anderswo der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hält er nichts. «Der Bilderzyklus und der Tanzsaal bilden eine Einheit», sagt er entschieden, «sie gehören zusammen.»
Das Problem: Der Gasthof mit seinem Tanzsaal sind im kantonalen Bauinventar lediglich als kommunal schützenswert eingestuft. Deshalb kann die Denkmalpflege nicht eingreifen und eine allfällige Sicherung mitfinanzieren. Doch Marti schätzt: «Wenn sich eine Trägerschaft zur Rettung der Bilder findet, wird wohl auch der Kanton beziehungsweise der Swisslos-Fonds nicht zurückstehen, um dieses einmalige Oberbaselbieter Kulturgut sichern zu helfen.»
Das hört die in Anwil aufgewachsene Judith Gysin gerne: Als sie mit ihrem Ehemann Markus vor sieben Jahren das leer stehende «Rössli» erwarb und als Restaurant wiederbelebte, war ihr wohl bewusst, dass sich der Bilder-Zyklus in einem sehr schlechten Zustand befindet. Zuerst musste sie sich aber darauf konzentrieren, den neuen Betrieb zum Laufen zu bringen.
Immer wieder hätten erstaunte Gäste völlig überrascht die Bilder betrachtet und ihr geraten, diese unbedingt zu erhalten, erzählt die Wirtin. Nun, nach sieben intensiven Jahren, ist es an der Zeit, sich den Bildern zuzuwenden. Jetzt sei sie bereit dazu. Doch zuerst sollen Fachleute abklären, ob mit der Rettung der Bilder zugleich weitere Sanierungen am Haus oder am Tanzsaal einhergehen sollen. «Die Statik ist ein zentrales Problem», sagt Marti, «bekommt man die nicht in den Griff, besteht die Gefahr, dass sich bald neue Risse bilden.»
Einzigartig in der Region
Letizia Schubiger freut sich, von der «Volksstimme» zu erfahren, dass Bewegung in die Geschichte um die gefährdeten Löw-Bilder gekommen ist, und plant an einem Rettungs- und einem Patronatskomitee. Mit der Unterstützung von verschiedenen Stiftungen, dem Baselbieter Swisslos-Fonds, Beiträgen der öffentlichen Hand und privaten Zuwendungen sollten die Arbeiten an den Bildern zu finanzieren sein, schätzt sie.
Stefan Buess, der auf Restaurierungen spezialisierte Maler aus Gelterkinden, hat die schadhaften Bilder bereits genauer betrachtet. Er schätzt, dass die Arbeiten auf rund 50 000 Franken zu stehen kommen – allfällige Kosten für die Sanierung des Saals nicht inbegriffen. Er geht davon aus, dass die Arbeiten zwei Monate in Anspruch nehmen. «Meine Erfahrungen zeigen, dass solche Projekte nie am Finanziellen scheitern», sagt er.
Buess schwärmt in den höchsten Tönen von der Kunst, die er im Tanzsaal angetroffen hat, und stuft sie «als dorfhistorisch und künstlerisch sehr wertvoll» ein. In der Region habe er jedenfalls bisher «nichts Vergleichbares» gesehen. Aber er warnt: An einer Seite seien die Bilder bereits arg in Mitleidenschaft gezogen worden. «Dort sind sie akut gefährdet», sagt er, und jede vom Wind zugeschlagene Tür könne zu weiteren Abplatzungen führen. Sein Fazit: «Wenn uns etwas an diesem Kunstwerk liegt, müssen wir möglichst schnell handeln.»
Allenfalls ein Batzen von den Bürgern
jg. Mit grosser Freude vernimmt Fredi Rickenbacher, der Zeglinger Gemeindepräsident, von der «Volksstimme» die Kunde, dass die Löw-Bilder restauriert werden sollen. Gerade den älteren Dorfbewohnern sei bewusst, dass das «Rössli» ein ausserordentliches Kunstwerk beheimatet. Und wem von ihnen die Bedeutung nicht bewusst sei, der kenne wenigstens die Bilder. Rickenbacher wird bei der Frage der Finanzierung vorsichtiger. Die Kasse der keine 500 Einwohner zählenden Gemeinde an der Ostgrenze des Kantons lässt keine grossen Sprünge zu. Eher käme hier die Bürgergemeinde zum Zug. Denn sie steht aufgrund der Deponie in der «Gipsi» finanziell auf gesunde Beinen, und der Verwendungszweck würde auch ihren Zielen eher entsprechen. Rickenbacher betont aber, dass er hiermit nur seine persönliche Meinung kundtut.
Der vergessene Basler Maler
jg. Der Basler Maler Rudolf Löw war 28 Jahre alt, als ihn das «Rössli»-Wirtepaar Eduard und Marie Bider-Rickenbacher aus Zeglingen anfragte, ob er bereit wäre, den neuen, an den Jugendstil erinnernden Tanzsaal im ersten Stock mit Bildern zu versehen. 1907 geschah dies. Löw sagte zu. So brach er regelmässig aus seiner Heimatstadt Basel nach Zeglingen auf. Mit Malen und Wandern verbrachte der Naturliebhaber die Zeit im Oberbaselbiet. Mit einem Festessen sei das Ende der Arbeit gefeiert worden, notierte Löw 1910 in seinem Tagebuch.
Die Aufgabe war auf Löw (1879 –1948) zugeschnitten. Denn er hatte sich vor allem als Porträt- und Landschaftsmaler bereits einen Namen gemacht. Mehrere grossflächige Wandbilder in Bahnhöfen stammen ebenfalls von ihm. Letizia Schubiger, Kunsthistorikerin und frühere Kantonskuratorin, beschreibt seinen Zeglinger Wandbilder-Zyklus jedenfalls als eine «grossartige künstlerische Leistung». Beeinflusst von den grossen Impressionisten sowie von Arnold Böcklin und Ferdinand Hodler rang er stets um seinen eigenen Stil.
Löw, der in Basel Kunstgeschichte studiert und danach viele Auslandreisen unternommen hatte, war auch schriftstellerisch tätig. So verfasste er eine Trilogie mit dem Titel «Häuser über dem Rhein». Darin zieht er bissig über die Stadt Basel her. Überhaupt wird er als kritischer, bisweilen mürrischer Zeitgenosse geschildert. Obwohl seine Bilder regelmässig in Ausstellungen im In- und Ausland hingen, geriet er nach seinem Tod in Vergessenheit.