Als die Turnfahrt noch zum Turnen führte
08.11.2019 Sport, TurnenEin Jubiläumsjahr mit zahlreichen Anlässen neigt sich dem Ende entgegen: Der TV Wenslingen begeht morgen mit einem Gala-Abend seinen 100. Geburtstag. Höhepunkt ist die Weihe der neuen Vereinsfahne.
Sebastian Wirz
Abmarsch um 5 Uhr in Wenslingen. Oberlehrer Hermann ...
Ein Jubiläumsjahr mit zahlreichen Anlässen neigt sich dem Ende entgegen: Der TV Wenslingen begeht morgen mit einem Gala-Abend seinen 100. Geburtstag. Höhepunkt ist die Weihe der neuen Vereinsfahne.
Sebastian Wirz
Abmarsch um 5 Uhr in Wenslingen. Oberlehrer Hermann Wagner und einige junge Wenslinger machen sich auf den Weg. Über Zeglingen und Häfelfingen gelangen sie nach Känerkinden, wo die Eltern des Lehrers den Wanderern ein kräftiges Morgenessen servieren. Danach geht es weiter. Nach insgesamt sechsstündigem Marsch kommt die Truppe am Ziel an: auf der Bürdenweid in Reigoldswil. Auch wenn ein Lehrer mit dabei war, beschreiben diese Zeilen keine Schulreise, sondern die allererste «Kantonalturnfahrt» des TV Wenslingen im Jahr 1919. Es war eine Turnfahrt, die den ersten Teil ihres Namens verdiente, denn am Nachmittag durften die Wenslinger zum ersten Mal «im weissen Gewand an den Gesamtübungen teilnehmen».
Zu lesen ist dies in der Jubiläumsschrift des TV Wenslingen, die aus aktuellem Anlass ein neues Kapitel erhält: Der TVW feiert heuer sein 100-jähriges Bestehen. Ein Team um TVW-Mitglied Lukas Rickenbacher hat die Festschrift zum 75-Jahre-Jubiläum von 1994 um die jüngsten 25 Vereinsjahre erweitert.
«Alle Turner in weissem Gewand, Tagesprogramme, die um 5 Uhr beginnen, und detaillierte Packlisten, die der Oberturner ausgab – den TV Wenslingen von vor hundert Jahren kann man sich heute kaum vorstellen», sagt Rickenbacher. Er freut sich darauf, das Büchlein morgen am Gala-Abend in der Wenslinger Mehrzweckhalle den Vereinsmitgliedern sowie den geladenen Gästen zu präsentieren. Als Höhepunkt des Abends kommt es schliesslich zur Weihe der neuen Vereinsfahne.
Unihockey statt Leibesübungen
Turnfahrt, Gesamtübungen, Mehrzweckhalle und Fahne. An diesen vier Elementen lässt sich in unterschiedlicher Weise die Entwicklung des TV Wenslingen wie auch des Turnens und der ganzen Gesellschaft ablesen. Die Ausflüge der Turner wandelten sich von den Wanderungen im weissen Hemd und mit Begleitung von Trommel und Handorgel über zweitägige Ausflüge in die Berge bis zu Wochenendtrips nach Prag, Berlin oder Budapest.
Die Reisen nehmen die Wenslinger nicht mehr unter die Füsse oder eben Räder und Tragflächen, um am Ankunftsort zu turnen. Und Gesamtübungen gibt es erst recht keine mehr. Ihre sportlichen Ambitionen leben die TVWler beim Nationalturnen, der Leichtathletik und bei Spielen aus. Um die Jahrtausendwende hat sich der Verein definitiv von Geräteturnen und Gymnastik verabschiedet. Seine Stärken liegen heute eher beim Steinstossen oder der Pendelstafette. Und dann hat ab den späten Achtzigerjahren noch so ein leichter weisser Ball mit Löchern das Dorf verändert: Als die Wenslinger Buben stundenlang und bei jedem Wetter auf dem Sportplatz Hockey spielten, hatte der damalige Gemeinderat und ehemalige Jugileiter Bruno Roth in den 1990ern ein Einsehen: Die Jugend durfte am Sonntag nachmittags die Turnhalle benutzen. Diese ersetzte darum Holzschläger und Tennisball durch eine Unihockey-Ausrüstung. Dieser Sport wurde zum prägenden Element in der Jugendriege. Und als die «unihockeyverrückte Generation», wie sie in der Jubiläumsschrift genannt wird, in den Turnverein übertrat, war der Siegeszug des Spielsports vollzogen. Wenslingen gewann 2001 denn auch gleich die erste vom Bezirksturnverband organisierte Wintermeisterschaft im Unihockey. Mehrzweckhalle statt Schulscheune Ihre erste Fahne erhielten die Wenslinger 1932. Als das Gasthaus Ochsen 1942 niederbrannte, wurde das Vereinsbanner Opfer des Feuers. So schafften sich die Turner 1946 nach Kriegsende eine neue an. Nach der dritten Fahne, die zum 50-Jahre-Jubiläum geweiht wurde, erhält der TVW nun zum Hundertsten das vierte Exemplar. Aus heutiger Sicht beeindruckend – wenn nicht beängstigend – liest sich die Entwicklung des Preises für die Fahne: Kostete das Banner zum Ende des Ersten Weltkriegs noch 530, berappten die Turner am Ende des Zweiten schon 810 Franken. Bis 1969 war der Preis für die Produktion bereits auf 2370 Franken gestiegen und 1987 kostete die neue Jugi-Fahne 4400 Franken. Die Ausgaben für das Banner, das morgen geweiht wird, übersteigt die Marke von 10 000 Franken.
Lange Jahre turnten die Wenslinger im Freien. Im Winter konnten sie ihre Übungen zeitweise in der Schulscheune, dem Saal des «Ochsen» oder der «Eintracht» absolvieren – oder es gab eben eine Winterpause. Die Wenslinger Mehrzweckhalle, die 1972 erbaut wurde, beendete dieses Manko. Bei aller Veränderung steht die Mehrzweckhalle aber auch für Konstanz: Seit der Turnverein und die anderen turnenden Vereine die Halle bezogen haben, sind die Trainingstage gleich geblieben: Zwei Tage gehören dem TV, je einer der Männer-, Frauen- und Damenriege. Die Vorabende gehören dem Nachwuchs, zum Beispiel der Jugendriege, die heuer das 50-Jahre-Jubiläum feiert.
Von so einer Mehrzweckhalle konnten Oberlehrer Wagner und seine Turner 1919 nur träumen. Körperlich fit waren sie aber auch ohne: Nach dem Marsch nach Reigoldswil und den Gesamtübungen mussten sie um halb vier Uhr nachmittags bereits wieder aufbrechen. Schliesslich galt es, die rund 25 Kilometer Heimweg unter die Füsse zu nehmen. Gemäss Jubiläumsschrift kamen sie «wohlbehalten, aber müde» zu Hause an.