Neue Träume braucht das Land
20.08.2019 PolitikNeue Träume braucht das Land
Laura Grazioli, Landrätin Grüne, Sissach
Haben Sie heute schon verzichtet? Auf ein saftiges Steak zum Mittagessen, auf diese tollen – garantiert nicht aus nachhaltigem Leder hergestellten – ...
Neue Träume braucht das Land
Laura Grazioli, Landrätin Grüne, Sissach
Haben Sie heute schon verzichtet? Auf ein saftiges Steak zum Mittagessen, auf diese tollen – garantiert nicht aus nachhaltigem Leder hergestellten – Schuhe im Schaufenster, auf die kurze Fahrt mit dem Auto zur Migros, weil die Kinder dringend Nachschub an Blöterliwasser aus Italien brauchen? Und hat Sie dabei das leise Gefühl beschlichen, dass das doch alles gar keinen Sinn hat? Weil Sie ja eh nur ein winziges Rädchen in einem so komplexen grossen Ganzen sind, dass Sie genauso gut das Fleisch essen und die Schuhe kaufen und zur Migros fahren, die fünf Sixpacks Plastikflaschen besorgen und nach der Rückkehr gleich noch rasch den nächsten Easyjet-Flug für einen Wochenendtrip nach Island buchen hätten können?
Mir persönlich geht es regelmässig so. Ich stehe im Laden und frage mich: Ist die aus Übersee eingeflogene Banane nun wirklich ökologischer als der Liter Biomilch aus der Schweiz – und was bedeutet das für meinen Frühstückskaffee? Ich stehe vor der Waschmaschine und frage mich: Braucht der Zeitspargang wirklich soviel mehr Energie als der normale Waschgang, obwohl er halb so lange dauert – und wie soll ich dann all die schmutzigen Babykleider innert nützlicher Frist waschen? Und wieso muss ich überhaupt ständig Entscheidungen treffen, bei denen ich meine alltäg lichen Wünsche und Gewohnheiten quasi gegen die Zukunft unseres Planeten abwäge? Dabei habe ich hier die grösseren und grossen Konsum- und Lebensentscheidungen ja noch nicht mal erwähnt: (Wann) kaufen wir ein Elektroauto? Werden wir unserer Tochter jemals Japan zeigen (können)?
Es scheint heute allgegenwärtig: Das Dilemma zwischen dem Wunsch, einen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten, und dem Wunsch nach einem guten, angenehmen, unkomplizierten Leben. Und dabei fehlt oft eine Orientierungshilfe. Es fehlt eine gemeinsame gesellschaftliche Vision: Die Vorstellung einer Zukunft ohne fossile Energien, Verbrennungsmotor, Einwegverpackungen und Pestizide. In der wir alle in CO2-neutralen Häusern wohnen, uns CO2-neutral fortbewegen und überhaupt CO2-neutral leben und konsumieren.
Für mich steht fest: Als Politikerin genauso wie als Landwirtin und Mutter habe ich die Pflicht, mich für ein gutes Heute und Morgen einzusetzen, für praktikable Lösungen, konstruktive Kompromisse und nachhaltige Massnahmen. Aber gerade die Politik kann nur säen, was auf gesellschaft- lichem Nährboden wächst. Sie kann nur auf etwas hinarbeiten, das vorstellbar ist. Und der Wandel, der uns bevorsteht, ist so gross und komplex, dass er das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen (noch) übertrifft. Meiner Meinung nach schaffen wir ihn nur, wenn wir als Gesellschaft neue Visionen entwickeln. Wenn Angst- und Verzichtszenarien dominieren, sind Abwehrreaktion verständlich. Wenn wir gemeinsam echte, lebenswerte Alternativen erarbeiten, gibt es etwas, auf das man nicht nur hinarbeiten muss, sondern auch will.
In der «Carte blanche» äussern sich Oberbaselbieter National- und Landratsmitglieder sowie Vertreterinnen und Vertreter der Gemeindebehörden zu einem selbst gewählten Thema.