Aus dem Logbuch eines Inselsammlers. Teil 5: Ik, Ulithi-Atoll

Der fünfte Teil der achtteiligen Reportage über eine Reise zum Ulithi-Atoll: Wir finden den perfekten Ersatz für Plastik-Strohhalme und kaufen uns ein Schwein.

Hanspeter Gsell

Wir haben, zusammen mit Ruth-Ann, Geschenke auf die Inseln mitgenommen. Neben Kaffee und Zucker sind es Betelnüsse und Tabak sowie Süssigkeiten für die Kinder. Wir schütten den Korb unter dem grossen Mahagonibaum aus und Peter, der Sohn von Barnabas, macht sich daran, 16 identische Häufchen aufzuschichten. So viele Familien wohnen auf der Insel, alles soll gerecht verteilt werden.

Sollte ein Geschenk allzu gross sein, muss das Geschenk vorerst dem Chief präsentiert werden. Hat also ein Besucher einen Computer, eine Nähmaschine oder eine Drohne im Gepäck, könnte es sein, dass dieser Gegenstand vom Chief einkassiert wird und in einer geheimen Ecke seiner Hütte eingelagert wird. Alle Inselbewohner können die Utensilien jedoch jederzeit ausleihen. Ob dies bereits eine Form von Kommunismus ist? Eher nicht. Denn im Gegensatz zum Kommunismus existiert die Geschenkkultur immer noch.

Zigarillos und «lava-lava»
Auf Ik herrscht «lava-lava»-Zwang und ein teilweises Tabakverbot. Ersteres wird weitgehend beachtet. Zweiteres kann elegant umgangen werden, da Fischer rauchen dürfen. Welcher Raucher wird da nicht kurzerhand zum Fischer!

Die Frauen tragen alle die kunstvoll gewobenen «lava-lava», farbenfrohe Tücher, die man anstelle eines Rockes trägt. Eine besondere Bedeutung kommt der Farbwahl der Bekleidung zu. Sie variiert nämlich nach Insel, Abstammung und Alter der Trägerinnen. Allerdings scheinen die Erinnerungen an diese Modalitäten langsam zu verblassen.

Festgebunden werden die «lavalava» mit wertvollen Gürteln aus Muscheln. Alte Fotos legen nah, dass man früher sogar Perlen verwendet hat. Im Gegensatz zu den Röcken, die man manchmal auch als Zahlungsmittel einsetzt, verbleiben die Gürtel im Familienbesitz und werden von der Mutter der ältesten Tochter vererbt.

Heute ist ein Besuch bei Ruth-Anns Mutter angesagt. Die alte Dame ist nicht mehr so gut zu Fuss und sitzt meistens in einem Rollstuhl. Der Sohn hat ihr eine kleine Rampe gebaut, sodass sie den Sitzplatz vor dem Haus bequem erreichen kann. Margarita heisst sie, ist 78 und noch äusserst rüstig und bei klarem Verstand. Wenn nur der Blutdruck nicht derart hoch wäre! Und sie habe keine Medikamente mehr. Welche Tabletten ihr der Arzt denn verschrieben habe, will ich wissen.

«Gar keine. Tabletten brauche ich keine, will ich nicht. Ich muss nur ab und zu mal eine Zigarette rauchen, dann bin ich sofort wieder gesund.» Obwohl ich an der therapeutischen Wirkung zweifle, offeriere ich ihr einen Zigarillo. Nicht ohne sie darauf hinzuweisen, dass die Dinger, im Vergleich zu den handelsüblichen Zigaretten, ziemlich stark seien. Ihr Sohn zündet den Stumpen für sie an, hält ihn ihr hin. Sie tut einen tiefen Zug, seufzt leise: «Very good medicament, very good!»

Ich verspreche ihr, die Zigarillo-Stummel zukünftig sorgfältig zu sammeln und ihrem Schwiegersohn Barnabas zu übergeben. Er würde daraus für sie neue Medikamente herstellen. Barnabas ist eine Art insularer Grosshändler für Tabakprodukte aller Art. Von der Insel Ikaais besorgt er sich Tabak, zerkrümelt diesen und stellt daraus unter Verwendung alter Zeitungen neue Zigaretten her: «Local cigarettes». Aus meinen Zigarillo-Stumpen-Krümeln produziert er nun eine neue Marke: «Ik Premium».

Ob sie denn Margarita, Margreth oder Margrit heisse, wollte ich von der Grossmutter wissen. Und sie somit eher spanische, englische oder deutsche Verwandte habe. «Keine Ahnung», erwidert sie. «Aber die spanische Sprache gefällt mir am besten, olé!» Wir einigen uns auf «Frozen Margarita».

Barnabas hat auch Strohhalme der Marke «Local Island Straw» im Angebot. Da diskutiert die EU über ein Verbot von Kunststoff-Trinkhalmen, erwägt mal hier und diskutiert mal dort, dabei haben die Bewohner von Ik schon seit längerer Zeit den idealen Ersatz gefunden: Papaya-Halme. In Ik und Ikik trinkt man den Saft der Kokosnuss durch Papaya-Halme und nennt diese «local straw». Sie sind lang genug, um auch noch den letzten Tropfen vom erfrischenden Saft in der Tiefe einer Kokosnuss zu finden.

Also dann, liebe Europäerinnen und Europäer: Schmeisst die Gummibäume aus der Wohnung; in den Müll mit den Palmen, die sowieso nie Früchte tragen werden, und setzt Papaya-Bäume! Aber besser heute statt morgen: Es kann nämlich eine Weile dauern, bis die Bäume Halme tragen.

Wenn Schweine fliegen
Der grosse römische Feldherr Lukullus, den guten Dingen des Lebens nicht abgeneigt, hätte sich wohl kaum im Ulithi-Atoll niedergelassen. Ausser Fischen und Meeresfrüchten, die es in Hülle und Fülle gibt, ist die Auswahl an Hauptgängen eher eingeschränkt. Als Beilagen isst man Brotfrucht, Süsskartoffeln und Reis, manchmal angereichert mit Taro und Spinat aus dem Gemüsegarten. Hat nicht mal wieder ein Taifun die Bäume umgelegt, wird die Diät mit Kokosnüssen, Papayas und Bananen abgerundet.

Stehen grössere Festivitäten an, dazu gehören Hochzeiten und Beerdigungen, aber auch ein längerer Aufenthalt im Ausland, muss ein Schwein her. Inselschweine geniessen, gegenüber ihren eingepferchten Artgenossen auf dem Festland, ein beinahe glückliches Leben. Aber eben nur beinahe. Da sie die Wurzeln der Taropflanzen genauso schätzen wie die Menschen, kommt man sich in die Quere.

Wer schon einmal gesehen hat, wie ein Maisfeld nach dem Besuch einer Herde Wildschweine ausgesehen hat, der kann sich vorstellen, wie ein Tarofeld nach dem Besuch einer Familie Hausschweine aussieht: Alles umgegraben! Deshalb werden die Schweine auf den Inseln an Stricken zwischen Bäumen angebunden, ihr Auslauf ist begrenzt. Nur die Jüngsten unter ihnen haben, solange sie noch gesäugt werden, freien Auslauf.

Und genau so eine kleine Sau ist es, die sich an meiner Hängematte zu schaffen macht. In ihrem Gefolge sind noch acht weitere kleine Schweinderl, ein überaus herziger Anblick. Auch für Apollonia, unsere einheimische Freundin. (Name gefälscht. Tatsächlich handelt es sich um Ruth-Ann. Da ich momentan ein Buch über Cicero lese, schweben immer wieder lateinische Namen durch die Geschichten). Nun, Apollonia ist genauso entzückt vom Anblick des Säuleins und seufzt: «Wie gerne würde ich doch wieder einmal einen Schweinebraten essen!»

Meine Frau blickt mich an, ich blicke zurück und schon sind wir stolze Besitzer eines Schweins. Wir übergeben es feierlich Apollonia. Wie aber sollte sie das Schwein von der Insel Ik nach Falalop und von dort nach Yap transportieren? «Kein Problem», meint Apollonia. «Ich habe eine alte Bananenkiste, da mach ich ein paar grosse Löcher rein. So hat das Schwein genug Luft. Nach Falalop fährt es in meinem Kanu mit, anschliessend reist es als Handgepäck im Flieger nach Yap.»

Ob es nicht günstiger sei, ein Schwein mit der Fähre zu transportieren, frage ich sie. «Nein, im Flugzeug reist der Quieker als Handgepäck mit, auf der Fähre hätte er mich 20 Dollar gekostet. Und seekrank wäre er auch noch geworden.» Das kleine Schwein wird sie, nach ihrer Ankunft in Yap, in die Obhut ihrer Nachbarin geben. Und es wird von jetzt an Kokosnüsse fressen. Natürlich nicht die ganzen Nüsse, sondern nur deren Inhalt, die Kopra. Das Wort Kopra stammt aus der malaysischen Sprache und bedeutet «getrocknete Kokosnuss».

Die Kokosnüsse werden zuerst gespalten und anschliessend an der Sonne getrocknet, um dem Fruchtfleisch Feuchtigkeit zu entziehen. Danach löst sich das Fruchtfleisch, man nennt es jetzt Kopra, leicht von der Schale.

Früher konnten die Insulaner die Kopra regelmässig fahrenden Händlern verkaufen. Seit die Preise im Keller sind, verfüttern sie die Kokosnüsse lieber den Schweinen. Dank dieses Futters, Kopra besteht vorwiegend aus Öl und Zucker, haben die Tiere schon nach kürzester Zeit ziemlich viel Speck auf den Rippen. Das Schweinefleisch ist westlichen Mägen jedoch nicht zuträglich; das Fett schmeckt süsslich und nach Kokosnuss. Die Menschen auf den pazifischen Inseln aber stört dies überhaupt nicht: Besser ein fettes Schnitzel als gar kein Schnitzel.

In loser Folge erscheint in der «Volksstimme» die achtteilige Serie zu Hanspeter Gsells Reise durch das Ulithi-Atoll zwischen November 2018 und Januar 2019.

«Diese Inseln sind nicht vorhanden»

Wir haben, nach langen Verhandlungen, die Bewilligung erhalten, das Ulithi-Atoll in Mikronesien zu besuchen. Allerdings wurde uns untersagt, die Namen der einzelnen Inseln zu nennen und man bat uns, keine Fotos von dort lebenden Menschen zu veröffentlichen. Wir halten uns selbstverständlich an diese Abmachungen. Deshalb haben nicht nur einzelne Inseln, sondern auch deren Bewohner in dieser Reportage andere Namen. Die abgedruckten Fotos von Menschen stammen von den Inseln Yap, Falalop, Satawal und Lamotrek.

Hanspeter Gsell

Lava-lava und ein fliegendes Schwein

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