«Da fallen einem fast die Augen raus»
16.07.2019 Eptingen, SportMotorsport | Marc Surer über Heimat, verpasste Chancen und Elektroautos
Nach 21 Jahren beim Bezahlsender Sky hat Marc Surer beim SRF als Formel-1-Experte angeheuert. Der frühere Autorennfahrer aus Eptingen hat einen Gang heruntergeschaltet.
Christian ...
Motorsport | Marc Surer über Heimat, verpasste Chancen und Elektroautos
Nach 21 Jahren beim Bezahlsender Sky hat Marc Surer beim SRF als Formel-1-Experte angeheuert. Der frühere Autorennfahrer aus Eptingen hat einen Gang heruntergeschaltet.
Christian Horisberger
Herr Surer, 21 Jahre begleiteten Sie nach Ihrer aktiven Rennfahrerkarriere als Experte beim Sender Sky den Formel-1-Zirkus. Mit 67 könnten Sie sich aus dem Erwerbsleben zurückziehen, haben aber beim SRF angeheuert. Warum?
Marc Surer: Sky Deutschland, früher Premiere, stieg 2018 aus der Formel- 1-Berichterstattung aus. Plötzlich war ich ohne Job. Ich habe ein Jahr Pause gemacht und viel Zeit auf meiner Finca in Spanien verbracht. Ich reparierte Zäune, arbeitete mit den Pferden. Ich genoss das Leben, tat, was mir gefiel. Dabei hat für mich die Freizeit einen grösseren Stellenwert erhalten. Nebenher habe ich stets kleinere Motorsport-Sachen gemacht. Über ein Engagement beim Formel-E-Rennen in Bern kam ich mit dem Schweizer Radio und Fernsehen ins Gespräch. Ich werde nun knapp die Hälfte der Saison fürs SRF als Formel-1-Experte abdecken und diese Rennen besuchen, das ist für mich ideal.
Sie haben nach 21 Saisons mit jeweils 20 Rennen noch immer nicht genug vom Nomadenleben?
Wenn man es immer macht, wird es zur Normalität. Man kommt heim, packt den Koffer aus und weiss, am Dienstag geht es aufs Neue los, nach höchstens einer Woche zu Hause. Irgendwann hat man den Rhythmus drin. Mit der zunehmenden Zahl Überseerennen wurde es aber immer extremer.
Und die Rennen? Hat man es nicht irgendeinmal gesehen?
An der Spitze haben wir dieses Jahr eine langweilige Saison, weil Mercedes so dominant ist. Aber man weiss nie, was passiert, bevor alle über die Ziellinie sind. Ausserdem interessiere ich mich sehr für die technischen Aspekte. Wir haben im Moment eine Formel 1, die mit der Energierückgewinnung eine Wahnsinns-Technik hat. Beim Bremsen holen die pro Runde 160 PS Energie für zusätzlichen Schub heraus. Es sind die effizientesten Motoren der Welt. Kein anderes Auto holt aus einem Liter Benzin mehr Leistung. Durch den hohen Konkurrenzdruck in der Formel 1 wird die Entwicklung immer weiter vorangetrieben. Heute sind Dinge möglich, von denen man vor einigen Jahren nicht zu träumen gewagt hätte.
Immer dieselben Rundkurse, oft dieselben Sieger … Wie können Sie sich immer aufs Neue motivieren?
Kürzlich habe ich ein Formel-1-Rennen, ich glaube, es war der GP von Frankreich, im Fernsehen verfolgt. Ich schlief fast ein. Aber wenn ich kommentiere, lebe ich mit, ich fahre mit, fühle mich mittendrin, das ist für mich Adrenalin. Mir wird nie langweilig beim Kommentieren. Es gefällt mir auch, wenn wir Geschichten und Interviews aus der Boxengasse machen und ich dem Publikum etwas Technisches erklären kann.
Und sportlich? Langweilen Sie sich nicht?
Manche Zuschauer denken vielleicht: «Jetzt gewinnt schon wieder Mercedes.» Aber es geht ja nicht nur um die Ersten. Ich sehe, was dahinter läuft. Es gibt ganz enge Kämpfe. Das Mittelfeld ist äusserst spannend: Zwischen Platz 5 bis 15 liegen zwei bis drei Zehntel, die fighten wie die Wahnsinnigen. Das muss man schon schätzen. Für die Schweiz ist zudem wichtig, was das Sauber-Team – jetzt Alfa Romeo – macht. Wenn Sauber einen Punkt holt, ist das für die wie ein Sieg.
In welcher Verfassung befindet sich das «Schweizer» Team?
Es steht finanziell wieder auf gesunden Füssen, nachdem man sich lange Sorgen machen musste, dass es schliessen müsse. Mit «Alfa Romeo Marketing» im Rücken ist sein Überleben gesichert.
Wozu ist Sauber fähig?
Für das Team ist es ein grosser Erfolg, wenn es in die Top Ten fahren kann. Es gibt Renault, Ferrari, Red Bull, Mercedes – eigentlich ist gar kein Platz mehr in den ersten zehn. Das muss man auch so werten. Man kann sich nicht einbilden, dass die jetzt beginnen, Rennen zu gewinnen. Gegen die grossen Konzerne hat man keine Chance. Aber Renault schlagen sie trotzdem hin und wieder. Das ist schon eine Leistung.
Sie haben es als aktiver Formel-1-Pilot nie ganz an die Spitze geschafft. Beneiden Sie die Fahrer von heute, die erfolgreicher sind als Sie damals?
Ich muss mit dem leben, was war. Meine Unfälle haben mich zurückgeworfen. Ohne die hätte ich sicherlich bessere Angebote erhalten. Aber wenn einer mit gebrochenen Beinen im Spital liegt, warten die Rennställe ab, ob er wieder fit wird, statt die Katze im Sack zu kaufen. Das passierte mir zweimal. Der Aufstieg in ein Topteam kam so nicht zustande. Bei einem normalen Karriereverlauf wäre das wohl geschehen. Dennoch bin ich stolz, dass ich es geschafft habe, sechs Jahre in der Formel 1 zu bleiben. Es kommen viele Fahrer in den Zirkus, die fliegen schneller wieder raus. Ich bin stolz darauf, dass mich immer wieder ein Team verpflichtet hat, weil es sah, was ich zu leisten vermag.
Und wenn es Ihnen mal gut lief, versagte die Technik …
Ich habe es nie aufs Podest geschafft. Das nervt mich wirklich. Dreimal ging mein Auto kaputt, als ich kurz vor dem Ende des Rennens in den Top 3 lag. Aber für mich ist wichtig, dass ich zeigen konnte, dass ich es kann. Ich habe gegen Lauda und Prost gefightet, ich habe einen Senna überholt, der damals der grosse Held war. Mir fehlte einfach nur das nötige Quäntchen Glück.
Da werden Abermillionen in die Technik und Piloten investiert und Sie sprechen von Glück?
Fahrer haben zum Beispiel Glück, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt zum richtigen Team wechseln. Als Niki Lauda Lewis Hamilton überredete, zu Mercedes zu wechseln, war der Rennstall noch nicht top. Und heute? Hamilton sagt, er verdanke Lauda, dass er mit Mercedes vier Mal Weltmeister wurde. Dieses Glück muss man haben. Ich vergleiche mich nicht mit einem Hamilton, aber ich hätte das Zeug gehabt, mal ein Rennen zu gewinnen.
Lewis Hamilton und Sebastian Vettel tun dies. Männer vom Typ Traumschwiegersohn. Wir erinnern uns an Lauda, Prost, Senna oder Schuhmacher: starke Charaktere, Ehrgeizlinge mit Ecken und Kanten. Fehlen der heutigen Formel 1 nicht die Kämpen von damals?
Ex-Weltmeister Sebastian Vettel verpasst es, sich mit den sozialen Medien populärer zu machen. Doch Max Verstappen hat das Senna-Image. Und Weltmeister Lewis Hamilton hat Auftritte in Hollywood, wirkt an Modeschauen von Tommy Hilfiger mit – der hat ausserhalb des Zirkus’ einen Status wie zuvor kein anderer Pilot der Formel 1.
Einer der ebenfalls ganz Grossen, Niki Lauda, ist voriges Jahr gestorben. Was hat die Formel 1 mit ihm verloren?
Ich habe immer bewundert, wie kompromisslos konsequent er vorgegangen ist. Er philosophierte nicht lange herum, sondern analysierte das Problem und löste es innerhalb kürzester Zeit. Der Sport hat mit Niki Lauda eine schillernde Persönlichkeit verloren, die nicht nur als Fahrer, sondern auch hinter den Kulissen viel erreicht hat. Ich verstand mich gut mit ihm, wir waren aber nicht befreundet. Er hat einmal etwas Schönes über mich gesagt: Als er an einem Rennwochenende in ein Motorhome an der Strecke einstieg, bat er darum, man solle im Fernsehen auf Sky umschalten. «Surer ist der Einzige, der drauskommt», soll er gesagt haben. Ein schöneres Kompliment kann man als Formel-1-Experte nicht bekommen.
Immerhin als Experte auf dem Podest. Gratulation!
Nach meiner Zeit als Rennfahrer konnte ich beim Fernsehen eine neue Karriere starten. Das hat mir für viele weitere Jahre einen Job gebracht. Darauf bin ich auch stolz. Diese zweite Karriere ist für mich mindestens so wertvoll wie die aktive.
Kitzelt es Sie hin und wieder, eine Runde drehen zu können – gar ein Rennen zu fahren?
Ich bilde mir nicht ein, in meinem Alter die heutigen Autos am Limit bewegen zu können. Vor zwei Jahren hatte ich die Gelegenheit, einen doppelsitzigen F-1-Rennwagen fahren zu dürfen. Hinten sass mein Sky-Kommentator. Ich kann so ein Auto nach wie vor flott bewegen. Aber bei den Fliehkräften, die einwirken, bis zu 5G, muss der Körper schon mitmachen. Meiner hält das nicht mehr aus.
Aber Sie hatten Spass?
Und ob: Es ist faszinierend, wie der abgeht. Man hat das Gefühl, die Gerade sei zu kurz. Das Auto beschleunigt selbst am Ende der Geraden noch. Und wie das bremst, da fallen einem fast die Augen raus, das ist grausam. Und die schnellen Kurven erst: Die Autos kleben am Boden. Ich war nicht mehr in der Lage, voll ans Limit zu gehen. Nach der Kurve dachte ich, es wäre noch schneller gegangen. Die heutigen Autos sind wahnsinnig.
Sie sassen in F-1-Boliden und haben kürzlich in Bern ein Elektroauto-Rennen kommentiert. Herr Surer, keine dröhnenden Motoren, kein Benzingeruch – das ist doch kein richtiger Autorennsport!
Das haben Sie gesagt. Ich bin offen für Neues. Ich war in den 1990er-Jahren an der Tour de Sol mit einem Elektroauto dabei. Ich habe mich immer dafür interessiert, was es Neues gibt, was die Zukunft sein könnte. Ich finde, die Formel E hat absolut ihre Berechtigung. Sie hilft dem Image der Elektroautos. Vor Tesla waren Elektrofahrzeuge Bünzli-Autos. Tesla hat deren Image aufpoliert. Ich finde, die Formel E tut dies auch: Sie geht zu den Leuten hin in die Städte, wo es für eine Formel 1 niemals eine Bewilligung gäbe.
Was ist die Formel E sportlich wert?
Die Rennen sind gut, sie sind enger als jene in der Formel 1. Es war in Bern beeindruckend, wie die Autos mit 200 Sachen zum Bärengraben hinuntergerast sind. Was fehlt, ist nur der Sound – für die Zuschauer an der Strecke. Am Fernsehen macht das aber keinen grossen Unterschied.
Wie gefiel Ihnen das Rennen in Bern?
Es war eine geile Strecke: 2,7 Kilometer lang, bergauf und bergab mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 230 Stundenkilometern, dazu 130 000 Zuschauer und ein Schweizer, Sébastien Buemi, auf dem Podest. Leider gab es auch einige Chaoten, die Schäden für 400 000 Franken verursachten, und unzufriedene Anwohner. Es war trotz allem ein positiver Anlass – auch für den Austragungsort. Nach einem Crash wurden im Fernsehen minutenlang Bilder der Bundeshauptstadt gezeigt. Das war eine Super-Werbung für Bern.
Karbon, ABS, ESP … Dinge, die heute im Alltagsauto Selbstverständlichkeiten sind, wurden für die Formel 1 entwickelt. Ist die Formel E dasselbe fürs Elektroauto?
Nein. Für die Entwicklung ist nach wie vor die Formel 1 das Mass aller Dinge. Um zwei Beispiele zu nennen: Die Energierückgewinnung, die in beiden Wettbewerben eingesetzt wird, haben Formel-1-Ingenieure entwickelt. Die in den Formel-E-Rennen eingesetzte Einheitsbatterie stammt vom F-1-Rennstall McLaren.
Das ist doch absurd.
Das hat seine Gründe. In der Formel 1 dürfen die Ingenieure praktisch alles: Sie bauen Auto, Getriebe, Motoren und Energierückgewinnung selber. Bei der Formel E ist die Technik
Rennfahrer statt Rennwagenbauer
ch. Marc Surer, geboren 1951, wuchs mit zwei Geschwistern im Elternhaus in Arisdorf auf. Er absolvierte eine Ausbildung zum Schlosser, die er im Rang abschloss. Die Ambitionen, am Technikum eine Ausbildung zum Ingenieur zu absolvieren, um Rennautos zu bauen, ordnete er seiner Begeisterung unter, Rennautos zu fahren. Seine Motorsportkarriere nahm im Junior- Team von BMW ihren Anfang; diese Partnerschaft dauert bis heute an. Von 1979 bis 1986 absolvierte Surer 82 Rennen in der Formel 1. Zwei vierte Plätze waren seine besten Klassierungen.
Nach einem für seinen Beifahrer tödlichen Unfall bei einer Rallye beendete Surer 1986 seine Karriere als aktiver Autorennfahrer. Von 1996 bis 2017 wirkte er beim Bezahlsender Sky Deutschland als Formel-1-Experte. Nach Aufenthalten in England und Deutschland liess sich Surer in Eptingen nieder. Neu hat er seinen Hauptwohnsitz in Liestal, dazu weitere Dependancen in Spanien und in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, wo seine Frau Silvia Renée Arias, aufwuchs. Das Paar heiratete 2011.