Von Chiefs und Missionaren
30.07.2019 SissachAus dem Logbuch eines Inselsammlers. Teil 4: Ikik, Ulithi-Atoll
Im vierten Teil der achtteiligen Reportage über eine Reise zum Ulithi-Atoll lernen wir Seymour kennen. Er erzählt uns die Geschichte des spanischen Missionars Cantova.
Hanspeter Gsell
Ein in jeder ...
Aus dem Logbuch eines Inselsammlers. Teil 4: Ikik, Ulithi-Atoll
Im vierten Teil der achtteiligen Reportage über eine Reise zum Ulithi-Atoll lernen wir Seymour kennen. Er erzählt uns die Geschichte des spanischen Missionars Cantova.
Hanspeter Gsell
Ein in jeder Beziehung schwergewichtiger Bewohner aus Ikik ist in Hawaii gestorben. Heute nun sei der neunte Tag nach seinem Tod. Grund genug, es auf der Insel krachen zu lassen. Man lässt dem Heimkehrer eine triumphale Feier ausrichten. Jeder Partygänger ist dazu aufgerufen, Speis und Trank im Überfluss mitzubringen, an nichts soll es mangeln.
Da der Paramount-Chief, der Chef der Chefs, mit der Organisation der Festivitäten beschäftigt war, hatte er einen Abgesandten geschickt, der uns herzlich begrüsste, willkommen hiess und gleich zum abendlichen Festmahl einlud. Weil der «Custom», der Brauch, es so wolle. Ich bedankte mich meinerseits höflich für die Gastfreundschaft und die Einladung. Ich konnte den Abgesandten davon überzeugen, dass auch wir unsere «Customs», unsere Bräuche hätten, und dazu gehöre es, Beerdigungen unter keinen Umständen zu stören.
Und so machten wir uns auf, Ikik, die heimliche Hauptstadt des «Empires», des Reichs der äusseren Karolineninseln, zu erkunden. Eigentlich hatte ich gedacht, Hinterlassenschaften früherer Eroberer oder Kolonialisten zu finden. So wie wir im Baselbiet alte Römervillen ausbuddeln, auf einem Acker Golddublonen finden. Wo auf jeder Anhöhe eine zusammenfallende Ruine auf eine Renovierung hofft. Doch auf allen von uns besuchten Inseln hat man mit der Vergangenheit nicht nur abgeschlossen, sondern sie auch weggeräumt. Bevor die letzten Besatzer, die Amerikaner, abzogen, haben sie ihre Bulldozer und Caterpillars ein letztes Mal eingesetzt, die ganzen Hinterlassenschaften der Kriege ins Meer geschoben und anschliessend auch noch die Maschinen selbst im Meer versenkt. Dort fand man zwar bis in die 1980er-Jahre noch Überbleibsel, in der Zwischenzeit hat sie das Meer verschlungen.
Die mikronesische Zeitrechnung
Und dies sei auch gut so, meinte Seymour. Seymour ist ein Cousin von Maria und Ruth-Ann, somit ist er jetzt auch unser Cousin. Seymour ist ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Er zeigt mir alte Bücher und vergilbte Fotos aus seiner Jugendzeit. Er wurde hier auf Ikik geboren. Da seine Mutter ihm keine Milch geben konnte, wandte sie sich an die «Coast Guard», die amerikanische Küstenwache. Diese betrieb auf einer der Atoll-Inseln eine Funkstation. Da die Frau eines Offiziers eben erst ein Kind geboren hatte, konnte sie aushelfen. Man adoptierte Seymour kurzerhand und er wuchs die ersten Jahre seines Lebens in einer amerikanischen Familie auf.
Seymour kennt sich deshalb nicht nur in der grossen, sondern auch in der kleinen, der mikronesischen Welt aus. Zum besseren Verständnis der Unterschiede gibt er mir gleich eine erste Lektion. Sie trägt den Titel «Die Vermessung der mikronesischen Welt». Leider verhilft mir sein Vortrag eher zum grösseren Unverständnis.
«Man rechnet hier eher in Vollmonden und Halbmonden und deren Auswirkungen auf Ebbe und Flut als in Monaten. Man kann hier Kalender kaufen, auf denen zwar Monate eingezeichnet sind. Wie diese dann heissen, ob der November mal Januar oder Juli ist, der August dem März folgt, wird von den Bewohnern der Inseln aber selbst bestimmt. So wird am 1. Januar in Woli-Ik nämlich der 1. September sein, in Ikik jedoch erst der 2. August. Auf den selbst zu beschriftenden Kalenderblättern kann man die Anzahl der Tage pro Monat selbst festlegen, auch mal fünf Mittwoche hintereinander eintragen oder aber vom 25. an wieder rückwärts zählen.»
Nicht nur mikronesische Kalender, sondern auch Distanz- und Grössenangaben können verwirrend sein. Wer weiss denn schon, was gemeint ist, wenn Seymour sagt, ein Stein sei so gross wie «eine Makrele»? Eigentlich kennen wir die Makrele als Fischlein in einer flachen Dose mit Tomatensauce oder im geräucherten Zustand, es dürfte zwischen 25 und 30 Zentimeter gross sein. Einige können aber auch eine Grösse von über vier Metern erreichen. Rechenaufgabe: Berechnen Sie die Grösse des Steins.
Fährt nun Seymour nach Yap, bekommen solche Steine plötzlich noch eine andere Bedeutung: Sie werden zu «Rai», zu Steingeld. Es gibt sie in Grössen zwischen 30 Zentimeter und 3 Metern, zwischen Pizza und Mühlenrad. Und wieder einmal stimmt die Mär nicht, dass die Grösse eine Rolle spielen würde. Eine Münze kann wesentlich wertvoller sein als eine Dublone von den Ausmassen eines Hinkelsteins. Der Wert orientiert sich nämlich an den Beschaffungskosten. (Mehr dazu siehe auch in der Volksstimme vom 17. Juni 2017, «O’Keefe macht Geld».)
Etwas logischer scheint das Mass Yedaeg («Etak») zu sein. Die pazifischen Navigatoren berechnen damit Distanzen. Nehmen wir mal an, Seymour sei unterwegs von der Insel Ikik nach Alik. Sobald Ikik am Horizont verschwindet, weiss Seymour, dass er jetzt einen Etak zurückgelegt hat.
Seymour kommt auf die Geschichte der Missionare in Ulithi zu sprechen. «Hat man dir auf deiner Insel die Geschichte von Canova erzählt?», fragt er mich. «Nein, hat man nicht», entgegne ich und erkläre Seymour meinerseits, dass die Schweiz zwar eine politische, jedoch keine geografische Insel sei.
Die Vermessung der Missionare
1732: Juan Antonio Cantova, je nach Quellenlage auch Canova genannt, war Missionar in spanischen Diensten, lebte auf den Philippinen und war dort, wie sollte es auch anders sein, mit Missionieren beschäftigt. Eines Tages erzählt ihm einer seiner Schüler, dass wieder ein Kanu mit Flüchtlingen angekommen sei. Noch wüsste man nicht, ob es politisch Verfolgte oder Wirtschaftsflüchtlinge seien; Cantova solle sich die Gestalten doch besser mal anschauen. Was dieser auch sofort tat, zum Strand hinunterlief und die Menschen begutachtete.
«Wer seid ihr und weshalb wollt ihr in unser Land einreisen?», fragte er. «Das geht dich nichts an und einreisen wollen wir schon gar nicht. Wir haben uns verfahren, ein Taifun hat uns an die Küste eurer unfreundlichen Insel geblasen.» Man setzte sich zwecks weiterer Abklärungen unter eine Palme und so erfuhr unser Missionar, dass es nordöstlich der Philippinen Inseln gibt, die noch nie etwas vom Heiland gehört hätten.
Nachdem die Fremden wieder abgereist waren, schrieb Cantova dem Papst und bat um Zustellung eines Schecks in beträchtlicher Höhe, zwecks Zuführung neuer Seelen zum Katholizismus. Dieser nickte freudig, neues Seelenmaterial liess den Aktienkurs der Vatikanbank sicher ansteigen.
Der Koprasack läuft über
Und so setzte Cantova die Segel, mit dabei waren sein Assistent, mehrere Diener und Soldaten, und liess sich von Wind und Wellen nach Ulithi treiben. Genau dort, nämlich auf der Insel Ikik, landeten sie nach einigen Wochen, und bauten zu Gottes Ehren eine kleine und windschiefe Kapelle aus Treibholz und Palmblättern. Cantova besann sich seines Auftrags und verkündete das Wort Gottes. Darauf allerdings hatten die Menschen in Ikik nicht gewartet. Sie lebten nämlich durchaus glücklich in ihrem kleinen Paradies und brauchten dazu weder einen neuen Gott noch den dazugehörenden Zauber.
«Nun», dachte sich Canova, «wenn das so ist, dann taufe ich eben zuerst die Kinder, der Rest wird sich ergeben.» Tat er aber nicht.
Während der Taufe, so Seymour, hätte man die Kinder mit eingeschleppten Krankheiten angesteckt, sie seien alle gestorben. Als Cantova den Insulanern auch noch die Vielweiberei verbieten wollte, sei der Koprasack überlaufen. Ich wollte ihm entgegnen, dass Koprasäcke wohl nicht, Fässer jedoch sehr wohl überlaufen könnten. Doch Seymour fuhr weiter.
«Nach diesen Vorfällen war klar, Cantova musste getötet werden. Die Bewohner von Ikik wollten dies jedoch nicht selbst tun; es könnte ja später in den Geschichtsbüchern stehen, sie hätten Schande über sich gebracht.
Und so fragten sie bei den Nachbarn in Ik nach, ob die vielleicht Cantova abmurksen würden. Die Menschen in Ik hatten damit kein Problem, sie schuldeten den dortigen Fischern sowieso noch einen Gefallen. Und so haute man dem Missionar den Schädel ein und begrub ihn auf der Südseite der Insel.»
In loser Folge erscheint in der «Volksstimme» die achtteilige Serie zu Hanspeter Gsells Reise durch das Ulithi-Atoll zwischen November 2018 und Januar 2019.
«Diese Inseln sind nicht vorhanden»
Wir haben, nach langen Verhandlungen, die Bewilligung erhalten, das Ulithi-Atoll in Mikronesien zu besuchen. Allerdings wurde uns untersagt, die Namen der einzelnen Inseln zu nennen und man bat uns, keine Fotos von dort lebenden Menschen zu veröffentlichen. Wir halten uns selbstverständlich an diese Abmachungen. Deshalb haben nicht nur einzelne Inseln, sondern auch deren Bewohner in dieser Reportage andere Namen. Die abgedruckten Fotos von Menschen stammen von den Inseln Yap, Falalop, Satawal und Lamotrek.
Hanspeter Gsell