Gibt es mehrere Wahrheiten?

  13.06.2019 Ratgeber

Lesetipp | «Die geheimen Leben der Schneiderin» von Angelika Waldis

Eine Familienfeier zum achtzigsten Geburtstag der Eltern veranlasst Jolie zur Suche nach ihrem ältesten Bruder und gibt ihr Gelegenheit, einen Rückblick auf ihr eigenes Leben zu werfen. Dabei mischen sich Realität und Fiktion.

Rosmarie Ballmer

Schon viele Jahre besitzt Jolie Hansen ihr Nähatelier und tagein, tagaus ändert sie Kleidungsstücke nach den Wünschen ihrer Kunden ab oder um. Jolie macht alles und sie macht es gut. Ebenso zuverlässig besucht sie ihre an Demenz erkrankte Mutter jeden Samstag im Altersheim. Sie ist es auch, die zu Ehren der betagten Eltern eine Familienfeier organisieren möchte. So schreibt sie ihre drei Geschwister an und lädt sie ein. Einer wird fehlen, Franz, der älteste Sohn der Hansens.

Damals, als er 17 Jahre alt war, wollte er im nahegelegenen See schwimmen gehen. Gefunden hat man später sein Fahrrad, seine Kleider und ein blaues Tuch, Franz aber blieb verschwunden. Es musste davon ausgegangen werden, dass er ertrunken war. Irgendwann erhielt er ein Grab, wenn auch seine Leiche nie gefunden wurde. Das Verschwinden des Bruders versteinerte den Vater und die Mutter liess vieles ungesagt. Nun ist Jolie mit den Vorbereitungen für das grosse Fest beschäftigt, organisiert Sitzgelegenheiten, Häppchen, Essen, Dessert und denkt dabei über sich und ihr Leben nach. Was hat sie nicht alles erlebt in ihrer Kindheit, mit ihrem Bruder Franz. Sie erinnert sich an ihren Exmann Adrian, der sie finanziell immer grosszügig unterstützt hat, an die Geburt von Maxi, an das Leben als alleinerziehende Mutter. Da gibt es aber noch die Lügengeschichten. Eine davon hat sie jahrelang begleitet und holt sie just bei den Vorbereitungen für das Familienfest wieder ein.

Und da sind noch die Fragen, wie es wäre, wenn Franz damals gar nicht ertrunken, sondern einfach weggegangen wäre. Vielleicht steckt ein Familiengeheimnis dahinter? Diese Gedanken wühlen Jolie auf, nagen an ihr, aber der Vater schweigt und über der Vergangenheit der Mutter liegt ein dichter Nebel der Vergessenheit. Das Ende des Buchs bleibt offen, Franz taucht an der Familienfeier nicht auf, nur ein verschnürtes Paket mit einem seiner Schuhe von früher und frische Rosen auf dem Grab erinnern an ihn. Es sind mehrere Wahrheiten denkbar, der Roman thematisiert auch das Schweigen und Verschweigen.

Die Sätze sind meistens geradlinig und kurz gehalten, geschrieben von Angelika Waldis, einer Schweizer Schriftstellerin. Sie war im Journalismus tätig und mit ihrem Mann Otmar Bucher projektierte sie 1981 die Jugendzeitschrift «Spick», die sie 20 Jahre lang zusammen leiteten. Dann begann Angelika Walder Bücher zu schreiben, im letzten Sommer erschien «Ich komme mit», vor ein paar Jahren «Marktplatz der Heimlichkeiten», «Aufräumen» und weitere. Das vorliegende Buch «Die geheimen Leben der Schneiderin» wurde erstmals bereits 2008 vom Verlag Kein & Aber, Zürich, veröffentlicht und erhielt im gleichen Jahr die Literarische Auszeichnung der Stadt Zürich. Nun wurde der Roman durch den Verlag Wunderraum diesen Frühling neu aufgelegt.

«Die geheimen Leben der Schneiderin» von Angelika Waldis, Wunderraum, München, 187 Seiten

Rosmarie Ballmer, Schul- und Gemeindebibliothek,
Dorfmattstrasse 6, Oberdorf; 061 961 01 92; gusbib. oberdorf@bluewin.ch; www.bibliothek-oberdorfbl.ch.
Öffnungszeiten der Bibliothek: Montag von 16 bis
18 Uhr, Mittwoch und Donnerstag von 17 bis 19 Uhr.

 


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