Eine Überfliegerin und ein Fremdgänger
02.04.2019 WahlenLandratswahlen | Abgewählte, Neue und eine überraschend Bestätigte
In einer Sitzverschiebung im Landrat steckt unter Umständen Stoff für ein Drama mittleren Ranges mit Jubel, Leidenschaft und Tränen. Wir haben die Sieger und Verlierer ...
Landratswahlen | Abgewählte, Neue und eine überraschend Bestätigte
In einer Sitzverschiebung im Landrat steckt unter Umständen Stoff für ein Drama mittleren Ranges mit Jubel, Leidenschaft und Tränen. Wir haben die Sieger und Verlierer aufgespürt.
Christian Horisberger
«Jung, grün, weiblich und aus Sissach.» So erklärt Susanne Strub das Phänomen Laura Grazioli. Die SVP-Landrätin hatte vor vier Jahren im Wahlkreis Sissach die meisten Stimmen gemacht. Bei der Wahl vom Sonntag wurde die Bäuerin aus Häfelfingen von der Bäuerin aus Sissach entthront.
Die 34-jährige Grazioli hat eine politische Blitzkarriere ohnegleichen hingelegt und setzt ihren Höhenflug mit der glanzvollen Wahl ins Parlament fort. Dies fast ganz ohne politischen Leistungsausweis: Die Absolventin der Hochschule St. Gallen, Mutter und Landwirtin ist politisch bislang erst als Mitglied der Sissacher Gemeindekommission in Erscheinung getreten. Dennoch lächelte sie bei der Abstimmung zur Zersiedelungsinitiative von Plakaten der Grünen, die Kantonalpartei machte sie Anfang Jahr zur Vizepräsidentin.
Von ihrem Ergebnis sei sie überwältigt, sagt Grazioli, sie könne es sich kaum erklären. «Es mag ein Ausdruck davon sein, dass die Stimmbürger in mir etwas Neues, Zukunftsfähiges sehen.» Das starke Resultat setze sie im positiven Sinne unter Druck und motiviere sie zu Höchstleistungen, sagt Grazioli. Als Schwerpunkte ihrer Arbeit nennt sie die Verknüpfung von Umwelt- und Wirtschaftsthemen, soziale Gerechtigkeit und «den Erhalt unserer Lebensgrundlagen». Die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel sei eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Chance, die man aktiv angehen müsse.
Ihr Glück ebenfalls kaum fassen kann Regina Werthmüller. Die seit ihrer Trennung von den Grünen vor vier Jahren als Parteilose politisierende Landrätin aus Sissach konnte mithilfe der Mitte-Liste ihren verloren geglaubten Sitz verteidigen. Werthmüller denkt, dass die Wähler sie nicht zuletzt für ihre Konsequenz belohnt haben. Sie habe als Parteilose weitergemacht und sei nicht zu einer anderen Partei umgeschwenkt, um sich Vorteile zu verschaffen. «Ich blieb authentisch und hatte in Bildungsfragen, in denen die Starke Schule massgebend mitwirkte, Erfolg.»
Werthmüller bleibt sich treu
Von der Klimadebatte habe möglicherweise auch sie profitiert, sagt die 56-jährige Gymnastikpädagogin. Sie sei nach wie vor Mitglied der «Stechpalme»; in Sissach kenne man ihre politische Herkunft. Das Verhältnis zwischen ihr und der Grünen Partei sei «nicht mehr euphorisch», sagt sie. Aber sie anerkenne deren Leistung in ihren Themen. Viele Anliegen der Grünen könne sie unterzeichnen. Ihrem Schwerpunkt als Bildungspolitikerin werde sie treu bleiben.
Der einen Freud’, des andren Leid. Für Werthmüller musste Stefan Zemp (SP, Sissach) über die Klinge springen – trotz eines persönlich guten Resultats, wie er betont. «Sie hat von der Mitte-Mogelpackung profitiert, einer unheiligen Allianz.» Anders als er hätten die Wähler damit offenbar kein Problem gehabt.
Die Abwahl hat Zemp nicht wie einen Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Dass er von Sandra Strüby (Buckten) auf der SP-Liste übertrumpft wurde, überrascht ihn nicht. Und Werthmüller habe er immer auf der Rechnung gehabt. «Ich bin ein Proporz-Opfer», sagt er mit Blick auf das Ergebnis Werthmüllers, die er mit seinen 1683 Stimmen um gut 550 Stimmen distanziert hat. Er tröste sich damit, dass seine Partei zurück in der Regierung und nun stärkste Landratsfraktion ist.
Er werde den Landrat nach acht Jahren mit zwei lachenden Augen verlassen: «Weniger Ärger über die bürgerliche Frustpolitik im Landrat und mehr Freizeit und Lebensqualität für mich persönlich.»
Vergleichbar die Konstellation im Wahlkreis Gelterkinden: Eine bewährte Kraft wird von der grünen Welle weggespült. Die grüne Überraschung heisst hier Anna-Tina Groelly (Gelterkinden), das «Opfer» Hans-Urs Spiess von der SVP. Als Drittplatzierter auf der SVP-Liste – hinter Markus Graf und Markus Meier – scheidet der Rothenflüher nach einer Legislatur aus dem Parlament aus. Spiess war für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
Lehrer Schürch für Lehrer Rüegg
Groelly ist von ihrer Wahl überwältigt; an diesen Sitzgewinn habe keiner geglaubt. Sie hatte bereits vor vier Jahren für den Landrat kandidiert, damals noch als «Listenfüller», wie sie sagt. Dieses Mal sei es ein «bewusster» Entscheid gewesen. Sie freue sich sehr auf die Aufgabe und habe grossen Respekt davor.
Mission erfüllt, Sitz ohne «Bisherigen-Bonus» verteidigt: Nachfolger des wegen der Amtszeitbeschränkung aus dem Parlament ausscheidenden Martin Rüegg (SP) wird der Rünenberger Lehrer Ernst Schürch. Als Präsident der Amtlichen Kantonal Konferenz war der 55-Jährige prominentester SP-Kandidat des Wahlkreises. Ausserdem unterrichtete er lange an der Sek Gelterkinden, ehe er vor 16 Jahren nach Sissach wechselte. Seine Wahl ist daher keine grosse Überraschung. Berufsbedingt ist Schürchs Schwerpunkt die Bildung. Hier werde er sich insbesondere dafür einsetzen, dass Behauptungen, die beispielsweise die Starke Schule aufstelle und faktisch falsch seien, richtiggestellt werden. «Hier weiss ich genau, was wahr ist und was nicht.»
Das Kunststück, in einem «fremden» Wahlkreis gewählt zu werden ist dem Grünen-Präsidenten Bálint Csontos gelungen. Der Ramlinsburger Gemeinderat liess sich nicht in seinem eigenen Wahlkreis (Liestal) auf die Grünen-Liste setzen, sondern im Wahlkreis Waldenburg. Derlei Fremdgehen wird von den Wählerinnen und Wählern selten goutiert. So hatte die Liestaler alt Landratspräsidentin Esther Maag (ebenfalls Grüne) vor vier Jahren ebenfalls im Wahlkreis Waldenburg ihr Glück versucht, blieb jedoch chancenlos.
Csontos machte seinen Sitz mit einem schwachen Ergebnis zulasten der SVP. Von allen Gewählten erhielt er die wenigsten Stimmen. «Spielt keine Rolle», sagt er. Gewählt ist gewählt, und die Grünen haben den Sitz im Waldenburgertal zurück.
Nachdem er in seinen beiden ersten Jahren als Parteipräsident ohne Landratsmandat das politische Geschehen aus einer anderen Perspektive gesehen habe als die Parlamentarier, freue er sich auf eine «Riesenaufgabe» im Landrat mit einer fast doppelt so grossen Fraktion und viel Verantwortung.