Wenn Karten wichtiger sind als Tore
15.03.2019 FussballStrafpunkte sollen für Fairplay auf dem Rasen sorgen. Eine Analyse von 101 Teams
Sind zwei Teams im Regionalfussball in der Tabelle punktgleich, entscheidet seit 2012 nicht das Torverhältnis über die Platzierung. Wer weniger Strafpunkte sammelt, ist besser klassiert. So kann ...
Strafpunkte sollen für Fairplay auf dem Rasen sorgen. Eine Analyse von 101 Teams
Sind zwei Teams im Regionalfussball in der Tabelle punktgleich, entscheidet seit 2012 nicht das Torverhältnis über die Platzierung. Wer weniger Strafpunkte sammelt, ist besser klassiert. So kann es situativ wichtiger sein, Karten zu vermeiden, als Tore zu schiessen.
Sebastian Wirz
Seit der vierten Runde der Meisterschaft liegen der FC Bubendorf und der FC Concordia gemeinsam an der Spitze der 2. Liga regional. Obwohl beide Teams zum Start der Rückrunde am Samstag elf Siege sowie zwei Unentschieden – eines im Direktduell – und damit 35 Punkte auf dem Konto haben, ist der FC Bubendorf alleiniger Tabellenführer. Bei Punktegleichheit entscheidet nicht wie etwa in den Profiligen das bessere Torverhältnis über die Klassierung. Im Regionalverband wird belohnt, wer weniger Strafpunkte auf dem Konto hat: Nach den Tabellenpunkten ist die Fairplay-Wertung als zweites Kriterium massgebend.
So hat sich im Herbst Woche für Woche dasselbe Ritual wiederholt: Die Spieler von FCB-Trainer Matthias Maeder gewinnen – und verfolgen danach auf dem Smartphone, was Konkurrent «Congeli» gemacht hat. «Aber die Spieler interessieren sich nicht für die Tore, sondern nur dafür, wie viele Verwarnungen oder Platzverweise der Schiedsrichter gegen die Basler ausgesprochen hat», sagt Maeder. Dass das Resultat nicht im Fokus steht, ärgere ihn, auch wenn er es grundsätzlich richtig findet, Fairness sowie Anstand und Respekt gegenüber Gegnern und Unparteiischen zu fördern.
Zwei Strafpunkte pro Spielsperre
Auch Roger Schreiber, der Trainer der Gelterkinder Zweitligisten, will fairen Sport sehen. Er hält aber fest: «Das Sportliche sollte im Vordergrund stehen und Fussball ist nun mal eine Kampfsportart und nicht Schach oder Jassen. Es ist hart, wenn eine starke Mannschaft, die viele Tore schiesst, wegen vieler Gelber Karten schlechter klassiert ist.» Zudem spricht er die Problematik an, dass es kaum möglich sei, die Strafpunkte fair zu verteilen: «Es gibt Fouls und Fouls. Ein Spieler kann ein taktisches Foul begehen und damit eine Gelbe Karte im Dienst des Teams in Kauf nehmen.» Dabei gefährde er keinen Gegenspieler. «Mit brutalen Fouls, Tätlichkeiten, Reklamationen und Provokationen kann man ein taktisches Vergehen nicht vergleichen, die resultierende Gelbe Karte ergibt aber dieselbe Anzahl Strafpunkte.»
«Wir waren einer der letzten Deutschschweizer Regionalverbände, der diese Regelung übernommen hat», sagt Pascal Buser, der Geschäftsführer des Fussballverbands Nordwestschweiz (FVNWS). Die Initiative zur Priorisierung der Fairplay-Wertung kommt vom nationalen Verband und wurde in der Region auf die Saison 2012/13 hin eingeführt. Der Umgang mit den Strafpunkten sowie die Kriterien für die Fairplay-Rangliste sind Sache des FVNWS.
Die grosse Mehrheit der Strafpunkte kassieren Teams wegen Gelber Karten. Jede kommt einem Strafpunkt gleich. Bei den Roten Karten hängt die Anzahl Strafpunkte von der Anzahl Partien ab, für die der Spieler suspendiert wird. Rot wegen Unsportlichkeit, groben Fouls oder Reklamierens bedeutet zwei Spielsperren. Für die Strafpunktetabelle wird diese Zahl verdoppelt. Solche Roten Karten entsprechen somit vier Strafpunkten. Eine «Notbremse» ohne Verletzungsabsicht hingegen wird nur mit einer Suspendierung bestraft und ergibt daher auch nur zwei Strafpunkte gegen das Team.
Heissblütige Spieler, die dem Schiedsrichter drohen (Rot und fünf Spielsperren), können ihrem Team damit zehn Strafpunkte auf einen Schlag bescheren. Im selben Mass schlagen Forfait-Niederlagen, verspätetes Antreten oder der Einsatz nicht qualifizierter Spieler zu Buche. Darüber hinaus erhält der sündigende Verein in solchen Fällen Geldbussen bis zu maximal 1000 Franken aufgebrummt.
Auf nationaler Ebene beschäftigt sich derzeit eine Arbeitsgruppe im Rahmen der Überarbeitung der Kriterien für die «Suva Fairplay Trophy» mit der Ausarbeitung eines nationalen Strafenkatalogs, der dann für alle Regionalverbände verbindlich wäre. «Dies ist indes eine mittel- bis langfristige Option», sagt Pascal Buser.
Die «Volksstimme» hat die Strafpunkte aller 2.- bis 4.-Liga-Gruppen der Männer im FVNWS sowie der 2. Liga der Frauen, in welcher der SV Sissach spielt, aufgelistet. Anhand der Tabelle von mehr als 100 Teams prüfen wir vier gängige Thesen.
These 1: «Frauen führen fussballerisch die feinere Klinge. Sie holen weniger Strafpunkte.»
Ob es an der Klinge liegt oder nicht, der Frauenfussball ist weniger von körperlichem Einsatz geprägt als der Männerfussball. Dies lässt sich anhand der Strafpunkte belegen: Ordnet man die 89 2.- bis 4.-Liga-Mannschaften im FVNWS und die 12 Teams in der Gruppe der SV-Sissach-Zweitligstinnen in einer Tabelle nach Strafpunkten pro Spiel, werden die Top Ten ausschliesslich von Frauenteams belegt. Nur acht Männerteams kassierten pro Spiel weniger Strafpunkte als das meistbestrafte Team bei den Frauen (1). Mehr als die Hälfte der Männerteams (47) handelt sich weniger als 2 Strafpunkte pro Spiel ein. Auf mehr als 4 Strafpunkte pro Spiel kommen nur fünf Teams.
These 2: «Die Ländler können nur holzen und holen mehr Strafpunkte als Stadt-Vereine.»
Oft ertönt der Vorwurf von Stadtbasler Vereinen, die Teams auf dem Land spielten gröber, statt sich mehrheitlich mit technischen Mitteln auf den Sonnenplätzen der Tabelle zu halten. Betrachtet man bei den Strafpunkten nur die Männer-Teams aus den Bezirken Laufen, Sissach und Waldenburg, finden sich in der 2. bis 4. Liga zwar sieben von elf Teams in der zweiten Straf-Tabellenhälfte, nur drei kassieren aber mehr als 2,5 Strafpunkte pro Spiel.
Negativer Spitzenreiter ist bei den «Landteams» der SV Sissach, der in der 2. Liga 4,3 Strafpunkte pro Spiel erhalten hat. Für den mittlerweile abgewanderten Coach Alessandro Roberti zog sich dieses Problem von Spiel zu Spiel weiter: Abgesehen vom ersten Match der Saison musste er in jeder Partie mindestens auf einen Spieler wegen einer Sperre verzichten. «Vor allem die Karten wegen Reklamierens oder unnötiger Fouls haben uns nicht nur Strafpunkte, sondern auch viele Ranglistenpunkte gekostet», gab Roberti nach der Vorrunde zu Protokoll.
These 3: «Im Abstiegskampf holen Teams mehr Strafpunkte als an der Spitze.»
Die Annahme ist einfach: Wer um jeden Punkt kämpfen muss, um nicht abzusteigen, bedient sich auch mal der Mittel am Rande des Fussball-Reglements. Teams an der Spitze der Tabelle stehen, so die Annahme, unter geringerem Druck. Sie können einen enteilten Angreifer auch mal ziehen lassen, statt ihn von hinten zu fällen. Unsere Strafpunkte-Statistik stützt diese These teilweise: Von den fünf Teams, gegen die pro Spiel am meisten Punkte ausgesprochen wurden, liegen vier auf dem letzten Tabellenplatz. Handkehrum haben die Vereinigten Sportfreunde Basel als letztplatziertes Team (4. Liga) nur gerade 1,27 Strapfunkte pro Spiel vorzuweisen, und in den Top Ten der «bravsten» Mannschaften finden sich drei Teams, die auf einem der letzten drei Ränge ihrer Gruppe stehen.
Die These der Bestplatzierten, die sich nicht mit unfairen Mitteln helfen müssen, scheint nicht zu stimmen: Erst auf Rang 14 der Tabelle der Strafpunkte pro Spiel im FVNWS taucht das erste Top-3-Team einer Liga auf (Alemannia Basel, 2. Rang in der 4. Liga, 1,18 Strafpunkte pro Spiel). Der FC Lausen führt die 4. Liga gar trotz über 3 Strafpunkten pro Spiel an. Möglicherweise ist der Druck an der Spitze ebenso hoch wie im Tabellenkeller: Man will sich um jeden Preis in Aufstiegsnähe halten.
These 4: «Ausländervereine sind heissblütiger und holen mehr Strafpunkte.»
Von den ersten Italienervereinen bis zu Mannschaften späterer südosteuropäischer Einwanderer nehmen zahlreiche Teams mit nationaler Zusammengehörigkeit an der regionalen Meisterschaft teil. Von den 89 Teams in der 2. bis 4. Liga im FVNWS werden 15 von Vereinen gestellt, die explizit einer Einwanderergruppe zugehören. Beispiele sind die italienischstämmigen Lausner AC Rossoneri oder der kroatische NK Pajde aus Möhlin. Der bekannte Vorwurf ist, dass es aufgrund «südländischen Temperaments» zu Konflikten kommt oder politische Konflikte zwischen den Herkunfstländern von Einwanderern auf dem Rasen ausgetragen werden. Rein statistisch lässt sich die Annahme nur teilweise bestätigen: Von den 13 Teams, die pro Spiel am meisten Strafpunkte kassiert haben, gehören 6 einem Einwanderer-Verein an. Andererseits stellt ein Immigranten-Verein wiederum den Musterschüler im Regionalverband: Der FC Afghan aus Basel hat in der 4. Liga nach elf Spielen nur 6 Strafpunkte auf dem Konto. Die 0,55 Strafpunkte pro Spiel sind in der ganzen Region Rekord – bei einem Team, das nach unseren Thesen 1 (männlich), 3 (Rang 11 von 12 in der Gruppe) und 4 (Verein afghanischer Einwanderer) vermeintlich in dreifacher Weise für viele Strafpunkte prädestiniert wäre.