«Die Haare wurden länger, die Röcke kürzer»
28.09.2018 Sissach50 Jahre 68 | Soziologieprofessor Ueli Mäder zu den Auswirkungen der 68er auf den Oberbaselbieter Alltag (I)*
Das Jahr 1968 war durch Proteste, Demos, Feminismus, Krawalle und Tabubrüche gekennzeichnet.
«Die 68er fanden aber auch bei uns auf dem Land ...
50 Jahre 68 | Soziologieprofessor Ueli Mäder zu den Auswirkungen der 68er auf den Oberbaselbieter Alltag (I)*
Das Jahr 1968 war durch Proteste, Demos, Feminismus, Krawalle und Tabubrüche gekennzeichnet.
«Die 68er fanden aber auch bei uns auf dem Land statt», sagt der in Sissach aufgewachsene Soziologieprofessor Ueli Mäder und blickt 50 Jahre zurück.
Jürg Gohl
Gut 350 Seiten dick ist das Buch, das vor Ueli Mäder auf dem Tisch liegt. Der frühere Soziologieprofessor an der Uni Basel hat das Werk mit dem Titel «68 – wie weiter?» geschrieben und wurde deshalb überall ans Mikrofon oder vor die Kamera gebeten, wenn in letzter Zeit das magische Jahr 1968 thematisiert wurde. Mäder selber zählte vor 50 Jahren erst 17 Jahre und damit streng genommen nicht zu den «68ern». Diese tragen nach landläufiger Auffassung die Jahrgänge 1938 bis 1948. Doch Mäder hat sich mit dem Jahr, das für viele gesellschaftliche Veränderungen steht, intensiv befasst. Der Oberbaselbieter Soziologe ist in Sissach aufgewachsen, zählt 67 Jahre und wohnt heute in Rheinfelden.
«Volksstimme»: Herr Mäder, Sie hatten es gerade in der ersten Jahreshälfte sehr streng. Ihr Buch über die 68er ist erschienen, hinzu kamen reihenweise Auftritte zum Thema. Haben Sie nun genug davon?
Ueli Mäder: Streng? Nein. Wieso? Es freut mich, dass offenbar ein grosses Interesse an diesem Thema besteht. Dann gibt es halt einmal ein Interview wie eben jetzt oder einen Vortrag im Zusammenhang mit der Publikation.
Weshalb stolpert man in diesem Zusammenhang immer über Ihren Namen? 1968 waren Sie ein 17-jähriger Jüngling in Sissach, also etwas zu jung, um heute als Zeitzeuge durchzugehen.
Wir hatten damals in Sissach bereits eine interessante Szene. Wir diskutierten, engagierten uns und spielten auch Theater. Brecht-Stücke. Das beantwortet die Frage nicht ganz. Ich erhielt eine Anfrage des Rotpunkt-Verlags, als Soziologe ein Buch über die 68er zu verfassen. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Was geschah alles? Wie setzte sich die Geschichte fort? Haben die 68er heute noch eine Bedeutung? Dazu konnte ich rund 100 Gespräche führen. Meine Gesprächspartner waren vor allem Leute, die sich damals engagiert haben und einen engen Bezug zum Thema aufweisen.
Haben Sie beim Schreiben neue Erkenntnisse gewonnen oder wurde einfach nur Ihr Wissen über jene Zeit bestätigt?
Ich erinnere mich gerne an diese Zeit, aber es ging mir auch um eine Erweiterung des Horizonts. Sicher konnte ich durch die Arbeit am Buch viele Erkenntnisse vertiefen; als Oldie läuft man sonst immer Gefahr, die Ereignisse zu mystifizieren. Jetzt habe ich zum Beispiel realisiert, wie wichtig die Vorgeschichte ist. Sie ist bei den 68ern sehr lang. Zum Beispiel wollte der Bundesrat 1964 die Schweiz atomar aufrüsten. Das aktivierte wiederum die Friedensbewegung. Es folgte die Landesausstellung. Die Schweiz rang um das Bild, das sie nach aussen abgeben wollte.
Bleiben wir in der Schweiz. Wir denken an die Globus-Krawalle in Zürich und das Sit-in auf dem Basler Petersplatz. Fand 68 auch auf dem Land statt?
Ja, definitiv. Zum Beispiel in Graubünden, aber auch im Oberbaselbiet. In Locarno streikten 300 Lehrerinnen und Lehrer. Bei den Burschen wurden die Haare länger, bei den jungen Frauen die Röcke kürzer. Das löste in den Familien Debatten aus. Junge in Twisthosen gaben in Sissach zu reden. Heute trägt ein Mann sieben Ohrringe, und niemand regt sich mehr darüber auf.
Als junger Sissacher Handballer haben Sie in jenen Jahren lange Haare getragen. Fanden das alle toll in der Mannschaft und im Verein?
Wir verfügten über eine bunt gemischte, sehr solidarische Mannschaft. Natürlich jubelten einzelne Zuschauer bei Auswärtsspielen in Möhlin, wenn einer der langhaarigen Mäder-Brüder gefoult wurde, natürlich stellte der Handschin Paul, der damalige Sektionschef, die Frage, ob wir als Militärdienstverweigerer für unseren Verein überhaupt noch tragbar seien. Als in Sissach Militär stationiert war, verfassten wir Flugblätter und diskutierten mit den Soldaten.
Wie erlebten Sie im Oberbaselbiet den Aufbruch in anderen Lebensbereichen, etwa in der ?
Ende der 60er-Jahre erschien das Buch «Summerhill», das eine antiautoritäre Erziehung propagierte, ein Bestseller wurde und bei uns heftige Diskussionen auslöste. Peter Bichsels Geschichte «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» wurde zu Schullektüre. Das war bei uns auch ein wesentliches Element jener Zeit: das Aufbrechen alter, autoritärer Strukturen – auch auf dem Land.
An allen Fronten kam es zu Veränderungen: das Äussere, Demos, Emanzipation, Bildung, Militär, Hippie-Bewegung. Steht für Sie ein Aspekt klar im Zentrum?
Da denke ich zuerst an den Ost-West-Gegensatz. Lehrer beauftragten Schüler damit, die Nummern der Autos vor dem Naturfreundehaus aufzuschreiben. Dort treffen sich doch alles nur Linke. Man diskutierte plötzlich über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und über die Ermordung von Martin Luther King am 4. April 1968. Ausgelöst wurde dieses neue Interesse auch dadurch, dass in der Schweiz, in der damals 6 Millionen Menschen lebten, eine Million Fernsehgeräte standen. Im gleichen Jahr kam das Farbfernsehen, und die Schweizer bekamen konzentriert mit, was in der Welt abläuft. Über Mittag hörte man täglich die Nachrichten am Radio, und keiner am Tisch durfte reden. Doch auch die familiären Strukturen brachen auf.
Sie sprechen die Rolle der Frau an?
Auch. Um 1968 wurde zum Beispiel das Bikini-Verbot in Badeanstalten aufgehoben, der Frauenfussball wurde zum Thema, Geometrie war als Schulfach nicht mehr ausschliesslich den Knaben vorbehalten. 1968 kam im Baselbiet das Frauenstimmrecht.
Hat das Jahr 68 die Gesellschaft also stark politisiert?
Man darf 68 nicht nur auf das Politische reduzieren. Ich nenne ein Beispiel: Als die «Beatles» am 26. August «Hey Jude», die am meisten verkaufte Single, veröffentlichten, veranstalteten wir spontan ein «Hey Jude»- Fest, an dem wir das Lied rauf- und runterspielten. Jetzt kann man natürlich einwenden, dass Musik apolitisch ist. Aber damals spielte Radio Beromünster Ländler und Klassik. Die Popmusik hatte durchaus etwas Revolutionäres und musste sich erst durchsetzen. Die Jugend begehrte auf. Als Sissach ein Dorffest veranstalten wollte, begehrten wir in einer Gruppe auf. Man könne doch nicht festen, während gleichzeitig der Biafra-Krieg tobe und Kinder dort verhungern würden. Unser Anliegen wurde ernst genommen und es löste fruchtbare Diskussionen aus.
Das tönt sehr stark nach junge, linke Illusionisten gegen alte, rechte Realisten.
Dieses Polarisierende war früher tatsächlich viel ausgeprägter. 1968 sang Franz Josef Degenhart – ich war damals in der Basler Mustermesse im Publikum: «Widersprüche sind bloss Krampf im Klassenkampf. Einen Scheisshaufen zu malen, nützt gar nichts, er muss weg.» Die Jugendlichen von heute verfügen über eine höhere Sensibilität, Widersprüche zuzulassen. Zudem lässt sich fragen, wer denn ein Realist ist. Jene Leute, die mit engen, rückwärts gerichteten Scheuklappen durchs Leben gehen, oder nicht eher andere, die sich überlegen, wie sich die Welt entwickeln könnte. Ich habe von mir den Eindruck, immer einen Realitätsbezug gehabt zu haben, obschon ich ein Linker geblieben bin.
Was werden Sie 2019 treiben, 51 Jahre nach 68? Wird Ihnen langweilig?
Nein, bestimmt nicht. Es gibt noch viel zu entdecken zu 1968 und danach. Da muss man nicht auf ein Jubiläum warten. Und es gibt 2018 und auch 2019 Jugendliche. Es ist aus soziologischer Sicht genauso spannend zu beobachten, wie diese sich verhalten, wie jene im Jahr 1968.
* Erster Teil der Herbstserie «50 Jahre 68». Wird fortgesetzt.
Literatur in Rheinfelden; Ueli Mäder «68 – was bleibt?»; 11. Oktober, 19.30 Uhr; Stadtbibliothek, Marktgasse, Rheinfelden; freier Eintritt; Adrian Kohler befragt Ueli Mäder zum Buch.