Ein würdiges Leben hat jeder verdient
27.09.2018 SissachDer «Surprise»-Verkäufer Victor kämpft mit existenziellen Problemen
Victor Ona ist einer der Verkäufer, die vor einem Einkaufszentrum stehen und das Magazin Surprise verkaufen. Manchmal bleibt er von Kunden unbeachtet, manchmal wird er despektierlich ...
Der «Surprise»-Verkäufer Victor kämpft mit existenziellen Problemen
Victor Ona ist einer der Verkäufer, die vor einem Einkaufszentrum stehen und das Magazin Surprise verkaufen. Manchmal bleibt er von Kunden unbeachtet, manchmal wird er despektierlich behandelt, manchmal entstehen Freundschaften.
Sabri Dogan
Victor Ona steht bereits früh am Samstagmorgen um 9 Uhr vor dem Eingang eines Supermarkts in der Sissacher Begegnungszone. Er lächelt Kunden an und versucht, sie mit seinem sympathischen Blick zum Kauf des Surprise-Magazins zu bewegen. Viele würdigen ihn keines Blickes in dieser knappen Stunde. Laufen raus und schauen weg. Einige wenige bleiben stehen und kaufen das Magazin. Eine Frau droht lautstark: «Kein Foto in der Zeitung von mir, sonst gibt es Probleme.» Der Böckter Victor Ona kommt ursprünglich aus Nigeria. Er erzählt: «Es ist nicht einfach, Magazine zu verkaufen. Es gibt Menschen, die machen sich beim Herauslaufen sogar mit Grimassen und Bemerkungen lustig über mich.» Es ist ihm wichtig, hinzuzufügen: «Meistens sind es Ausländer. Die Schweizer haben etwas mehr Respekt. Und es gibt mehrheitlich gute Menschen.»
Obwohl Rassismus immer wieder auftrete, sei er in der Schweiz eher versteckt und nicht direkt ersichtlich. An seinem ehemaligen Arbeitsplatz in einem Restaurant spürte er ihn mehr. Victor kam vor vier Jahren in die Schweiz. Zuvor lebte er 13 Jahre lang in Spanien. Dort bekam er unkompliziert nach zwei Jahren die Aufenthaltsbewilligung und später die Staatsbürgerschaft. Seine Geschichte klingt nicht so dramatisch wie bei anderen, die über das Mittelmeer kamen, durch die Wüste marschieren mussten oder in libyschen Camps geschlagen wurden. Er reiste legal ein.
2.70 Franken pro Heft
Doch sein Leben ist nicht einfach. Victor Ona kämpft für ein würdiges Leben. Seine Familie lebt in Mallorca. Sie brauchen Geld, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, und sein Leben in der Schweiz kostet auch Geld. Sein Teilzeitjob in einer Restaurantkette als Küchenhilfe, wo er bestenfalls 1900 Franken pro Monat erhielt, reichten nicht aus. Neben dem Sprachschulbesuch verkauft er nun «Surprise», in jeder freien Minute, auch samstags. «Mit jedem Heft bekomme ich 2.70 Franken. 30 Rappen gehen an meine AHV», sagt Victor Ona. An guten Tagen verkauft er 30 bis 40 Hefte, an schlechten höchstens 10. «Wenn ich zehn Stunden draussen stehe, dann spüre ich meine Knochen.» Er sei mit 49 nicht mehr der Jüngste, und lacht. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen hätten es noch schwieriger. Wenn sie kein verkäuferisches Flair hätten und zudem schwarzer Hautfarbe seien, dann könnten sie auch mal wenig Umsatz machen.
Die Organisation Surprise war ihm beim Eintritt in die Schweiz eine grosse Stütze. Victor Ona ist vorsichtig im Gespräch. Er sucht nach den richtigen Worten. Er möchte alles richtig machen. Er redet bedacht und lieber weniger am Anfang. Onas Ausdruck ist positiv. Er hat ein ehrliches Lächeln. Man hat den Eindruck, er möchte über sich und sein Leben nur Positives erzählen. Mit der Zeit dringen aber auch seine Sorgen durch.
Erziehung aus der Ferne
Er vermisst seine Familie. Er geht alle zwei Monate nach Spanien, um etwas Zeit mit ihnen zu verbringen. Er versucht als Vater, die Entwicklung der Kinder positiv zu beeinflussen. Seine Kinder, 7 und 13, sollen nicht länger ohne Vater aufwachsen. Jeden Tag telefoniert er mit ihnen und versucht ihnen Hoffnung und Liebe zu geben.
Sein grösster Wunsch ist, dass sie mal in die Schweiz ziehen können. Dies gelinge ihm aber nur mit einer gut bezahlten Vollzeit-Feststelle. Am liebsten auf dem Bau. Es ist kein einfaches Unterfangen. Ona hat Erfahrung, aber kein Diplom. An diesem Punkt verschwindet sein Lächeln zum ersten Mal. Es zeigen sich Sorgenfalten auf seinem Gesicht.
Der Vater von zwei Kindern lebt eher zurückgezogen. Bei «Surprise» ist das Verkaufen kein Schleck, aber es gibt auch viele Stammkunden, mit denen er Freundschaft geschlossen hat. Es komme sogar vor, dass er im Zug gegrüsst werde. Highlights sind die Einladungen, die er erhalte. Manchmal lädt man ihn zum Essen ein. Da kann er sich mit Schweizer Familien unterhalten. Er fühle sich in solchen Momenten willkommen und integriert: «Es gibt überall genügend gute Menschen und ich versuche, mich in jedem Land auf diese zu konzentrieren», sagt Victor Ona. Diese Kontakte und die freundlichen Leute geben ihm Kraft und Hoffnung, wenn er nach langem Stehen und zum Teil despektierlichem Verhalten nach einem langen Tag nach Hause geht und an seine Zukunft denkt: Ein Leben mit seiner Familie.