Das Linzertörtchen aus dem Mixer
03.04.2024 SissachDas «Mülimatt» setzt neue Zeichen in der Ernährung
«Smoothfood» heisst das Essen für Menschen mit einer Schluckstörung. Es wird zuerst püriert und anschliessend wieder in die Form des ursprünglichen Lebensmittels gebracht. Seit diesem Jahr ...
Das «Mülimatt» setzt neue Zeichen in der Ernährung
«Smoothfood» heisst das Essen für Menschen mit einer Schluckstörung. Es wird zuerst püriert und anschliessend wieder in die Form des ursprünglichen Lebensmittels gebracht. Seit diesem Jahr wird im Sissacher «Mülimatt» diese innovative Art der Essenszubereitung angeboten.
Heiner Oberer
Im Nebenraum geniessen die letzten Bewohnerinnen und Bewohner das Frühstück. Das Servicepersonal nimmt die individuellen Wünsche der Gäste auf. Das immer mit einem Lächeln im Gesicht. Es herrscht eine friedliche Ruhe, nur unterbrochen vom Zischen der Kaffeemaschine.
Ich bin aber nicht zum Kaffeekränzchen im Zentrum für Pflege und Betreuung Mülimatt in Sissach. Ich möchte erfahren, wie aus einer pürierten Erbse wieder eine wohlgeformte entsteht. So, dass Bewohner, die an Schluckstörung (Dysphagie) leiden, nicht den ewig gleichen Brei vorgesetzt bekommen.
Noëmi Wirz (25), gelernte Diätköchin, die sich im Rahmen ihrer Ausbildung auf Desserts spezialisiert hat, strahlt, als ob sie die Frage erwartet hätte. «Ganz einfach», sagt sie. «Die Erbsen werden mit etwas Flüssigkeit püriert, mit Agar, das aus Zellwänden einiger Algenarten hergestellt wird, leicht gebunden. Anschliessend wird die Masse mit dem Spritzsack in Formen gespritzt – und fertig ist die Erbse.»
Was einfach tönt, hat einiges an Tüfteln und Pröbeln benötigt. Küchenchef Emanuel Da Silva (26), der seit rund zehn Jahren im «Mülimatt» arbeitet und seit einem Jahr die 14-köpfige Küchencrew leitet, nickt. «Mit Noëmi haben wir uns einen Goldfisch geangelt. Sie ist mit Leib und Seele dabei, pürierte Kost wieder in ihren Urzustand zu verwandeln.»
Sieht täuschend echt aus
«Das Auge isst mit», sagt Gisela Studer, Leiterin Hotellerie und Logistik im «Mülimatt». Vorbei seien die Zeiten, als man für Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht mehr richtig kauen konnten, alle Lebensmittel in den Mixer geworfen habe, wodurch unansehnliche Breie entstanden seien, so Studer. Da Silva pflichtet ihr bei: «Ist das Essen so zubereitet, dass es in Form, Geschmack und Farbe dem ursprünglichen Produkt sehr nahe kommt, bedeutet das für unsere Gäste einen Mehrwert und sie kriegen wieder Lust zu essen.» Noëmi Wirz widme sich mit Leidenschaft der pürierten Kost. «Das unterstreicht ihr Paradestück: Die nach einem Rezept von Noëmi pürierte Linzertorte, die mit viel Liebe ihr Originalaussehen zurück erhält», sagt der Küchenchef.
Bei einem Rundgang auf den verschiedenen Abteilungen, den Wirz und Da Silva zweimal in der Woche machen, erhielten sie immer wieder Rückmeldungen zum Essen. «Man muss sich das vorstellen. Da sitzen Leute, vorwiegend ältere Frauen, die ein Leben lang gekocht haben, und jetzt setzen ihnen zwei Jungspunde eine pürierte Linzertorte vor», sagt Da Silva.
Wirz lacht und sagt: «Das schönste Kompliment bekam ich – wohl ungewollt – vergangene Woche, als ich einen Bewohner beobachtete, der den Pommes-Ersatz mit den Fingern essen wollte. Anscheinend sind mir die Pommes optisch so gut gelungen, dass der Bewohner glaubte, er habe richtige Frites auf dem Teller.» Das sei für sie ein herzerwärmender Augenblick gewesen.
Vom Kuchen bis zur Bratwurst
Nicht nur Erbsen werden kunstvoll aus dem pürierten Zustand wieder ins Original verwandelt. In der Küche präsentiert mir das innovative Küchenduo weitere, ausgefallene Beispiele pürierter Kost. Wie zum Beispiel Erdbeerkuchen, bei dem die pürierten Erdbeeren sorgfältig wieder zu richtigen Erdbeeren werden. Oder Pouletschenkel mit Spätzli und zweierlei Karotten. Alles schön nach dem Pürieren wieder zurück ins Original verwandelt. Ganz filigran sind die Mandarinenschnitze, die mit viel Handarbeit nach dem Mixen wieder aussehen «wie frisch aus der Schale gepellt».
Und so sehen Bohnen wieder wie Bohnen, Rösti wie Rösti und die Bratwurst wie eine Bratwurst aus. Obwohl der Aufwand gross sei, sagt Wirz, habe sie alle Freiheiten, Neues auszuprobieren. Küchenchef Da Silva hakt ein und sagt: «Noëmi muss zwischendurch auch an den Herd. Nicht, dass sie mir noch aus der Übung kommt.» Die beiden lachen herzlich, was zeigt, dass die Chemie stimmt. Gisela Studer kann das nur bestätigen. «Wir haben ein hoch motiviertes Küchen-Team, das sich jeden Tag aufs Neue beweist. Das zum Wohle der Bewohnerinnen und Bewohner.»
Was jetzt noch bleibt, ist die Degustation des Linzertörtchens. Von der Konsistenz her eher einem Mousse ähnlich. Das Linzerli vergeht auf der Zunge und lässt einen verwundert zurück ob des originalgetreuen Geschmacks. Oder wie es die Bewohnerinnen oder Bewohner wohl ausdrücken würden: Lieber ein püriertes Linzertörtchen, das wie ein Linzertörtchen aussieht, als eine Linzertorte, die sich beim Verzehr in eine Staubwolke verwandelt.