Die Kunst des Kopfüberflugs
18.08.2022 WisenChristian Horisberger
Wenn Matthias Glutz in seinem bulligen Doppeldecker über die Startbahn in Langenthal rollt, ist Gurte festzurren angesagt. Denn der Hobbypilot hebt nicht ab, um rasch im Tessin einen Espresso trinken zu gehen, sondern um bei Loopings, Rollen und Turns ...
Christian Horisberger
Wenn Matthias Glutz in seinem bulligen Doppeldecker über die Startbahn in Langenthal rollt, ist Gurte festzurren angesagt. Denn der Hobbypilot hebt nicht ab, um rasch im Tessin einen Espresso trinken zu gehen, sondern um bei Loopings, Rollen und Turns alle räumlichen Dimensionen auszukosten. In den vergangenen Wochen bereitete sich der Kunstflugpilot akribisch auf seine Auftritte an den Flugtagen in Wittinsburg vor. Bis das zehnminütige Programm sass, habe er rund 20 Mal abgehoben, erzählt der Pilot, als wir ihn in seinem Heim und Domizil seines Architekturbüros in Wisen besuchen.
Von der grossen Leidenschaft des 60-Jährigen zeugen im Büro nur einige Fotos an einer Pinwand: Sie zeigen Flugmaschinen am Boden und in der Luft. Auf einem Korpus wartet zudem ein kleines Holzflugzeug auf die «Starterlaubnis». Als wir Glutz im Verlauf des Gesprächs bitten, uns den «negativen Looping» genauer zu erklären, der ihm besonders viel abverlange, erfahren wir, was es mit dem Spielzeug auf sich hat: Der Pilot nimmt es in die Hand, dreht es auf den Rücken und beschreibt zuerst den Anflug und zeichnet dann mit dem Modell einen grossen Kreis in die Luft. Kurz vor Vollendung des Kreises bringt er das Modell in die normale Flugposition. In ähnlicher Manier führe er seinen Kunstflugschülerinnen und -schülern die unterschiedlichen Figuren «trocken» vor, bevor es in die Luft geht, sagt der Pilot und Fluglehrer.
Späte Erweckung
Er selber war ein Spätzünder, zumindest, was den Motorflug betrifft: Als ambitionierter junger Deltasegler hatte Matthias Glutz die Motorfliegerei nicht auf dem Radar. Hin und wieder ergaben sich Mitfluggelegenheiten in Kleinflugzeugen: keine Begeisterung, kein Funke, der übergesprungen wäre, nichts. «Geradeausfliegen hat mich nie interessiert», sagt er. Mit 30 Jahren die Erweckung: Als Passagier eines am Himmel purzelnden Kunstflugzeugs erlebte Glutz erstmals die dritte Dimension: «Hier kann man sich überschlagen, ohne irgendwo anzustossen.» Das wollte er selber auskosten. 35 Flugstunden später hatte er das Motorflugbrevet in der Tasche. Nahtlos folgte die Kunstflug-Grundausbildung, wo er Loopings, Rollen, Rückenflug, trudeln oder senkrechte Aufstiege bis zum Stillstand übte. Er besuchte im In- und Ausland Trainingslager, bestritt Wettkämpfe, wurde für Flugshows gebucht und begann schliesslich, selber Kunstflug zu unterrichten. Wettkämpfe bestreitet Glutz seit längerer Zeit nicht mehr. Einladungen zu Flugshows dagegen nimmt er noch immer gerne an: «In Wittinsburg, praktisch vor der eigenen Haustüre fliegen zu dürfen, ist für mich eine Ehre», sagt er. Wie auf jede Show bereitet er sich akribisch vor. Jede Figur müsse auch bei windigen Verhältnissen sitzen, denn bei Vorführungen dürfe er sich keinesfalls übers Publikum treiben lassen. Auch dann nicht, wenn ihn gleichzeitig ein Mehrfaches der Erdanziehungskraft in den Sitz drückt oder bei negativen Figuren fast aus dem Flugzeug zerrt.
Auf Laien wirken manche Figuren, als gälten Aerodynamik und Erdanziehungskraft nur bedingt. Für den Piloten dagegen bedeutet diese Präzision Schwerarbeit. Sie ist die Summe aus fliegerischem Können, Übersicht, Kontrolle und viel Training: Pro Jahr absolviert Glutz durchschnittlich rund 100 Flugstunden – dies seit 30 Jahren.
«Totalschaden» rekonstruiert
So spektakulär wie das Akrobatik-Programm, das der in Diegten aufgewachsene Pilot am Samstag und am Sonntag in Wittinsburg vorführen wird, so exklusiv ist sein Fluggerät. Er wird eine für den Kunstflug entwickelte Doppeldeckermaschine des Typs «Rombach Special» fliegen: 770 Kilogramm Leergewicht, 9-Zylinder-Sternmotor mit 400 PS und einem Topspeed von 360 Stundenkilometern. Die Besonderheit der Zweisitzer-Maschine ist, dass ihre Tragflächen und der Motor so konstruiert sind, dass sie sich problemlos auch während längerer Zeit in Rückenlage fliegen lässt und Belastungen von bis zu 6 G wegsteckt.
Nach dem Wissen des Eigentümers sind von der «Rombach Spezial» weltweit nur vier Exemplare in der Luft. Glutz hat das Flugzeug nach einem Unfall als Totalschaden «für fast nichts» erworben und eigenhändig wieder in Schuss gebracht. Die Einzelteile – unter anderem die komplett zerstörten, sieben Meter messenden Tragflächen – rekonstruierte er im Hobbyraum seines Hauses. Der Zusammenbau der Maschine erfolgte im Hangar in Langenthal, das Lackieren in Wohlen: Elf Schichten Lack trug Glutz auf, und nach jeder Schicht schliff er die gesamte Oberfläche mit 600er-Papier ab. Allein fürs Abkleben, Schleifen und Lackieren sei er 55 Mal nach Wohlen gefahren, sagt er. Nach fünfjähriger Restauration und rund 3000 Arbeitsstunden konnte er die gelb-blaue Maschine 2019 mit dem Segen der Luftfahrtbehörde wieder in Betrieb nehmen.
Matthias Glutz ist verheiratet und Vater einer 17-jährigen Tochter. Wie familienverträglich ist ein Hobby, mit dem er 10 bis 15 Stunden wöchentlich verbringt und bei dem das Risiko mitfliegt? «Ohne die Unterstützung der Familie ginge das nicht», sagt er. Und diese habe er voll und ganz. Seine Ehefrau ist ebenfalls Pilotin. Als er sie bei einem Akrobatik-Taxiflug in seinem Doppeldecker kennenlernte, war sie bereits Segelfliegerin. Heute habe sie wie er das Kunstflug-Patent und sei aktive Pilotin. Und die 17-jährige Tochter sei interessiert, in die Fussstapfen der Eltern zu treten.