Plädoyer für die Verdichtung – aber muss es im Zentrum sein?
29.07.2022 SissachRahel Gugelmann
Bereits vor drei Jahren berichtete die «Volksstimme» über das damals vorgestellte «Räumliche Entwicklungskonzept (REK)» der Gemeinde Sissach, in dem ortsplanerische Ziele beschrieben sind, die bis spätestens 2040 Realität sein sollen. Inmitten von ...
Rahel Gugelmann
Bereits vor drei Jahren berichtete die «Volksstimme» über das damals vorgestellte «Räumliche Entwicklungskonzept (REK)» der Gemeinde Sissach, in dem ortsplanerische Ziele beschrieben sind, die bis spätestens 2040 Realität sein sollen. Inmitten von Entwicklungskonzepten und Quartierplänen fällt es bisweilen schwer, den Überblick zu behalten, geschweige denn eine Verbindung zur Entstehungsgeschichte des heutigen Dorfes herzustellen. Dieser Beitrag versteht sich als Versuch, eine Brücke zu schlagen zwischen dem, was war, und dem, was in Zukunft sein soll.
Wer sagt, Sissach sei eine Metropole im Baselbiet, dem wird innerhalb des Kantons wohl Lokalpatriotismus unterstellt und südlich des Hauensteins wird er vermutlich müdes Lächeln ernten. Dabei ist die Entwicklungsgeschichte Sissachs vielseitig und vielfach beeindruckend. Nicht nur eine der ersten Bahnlinien des Landes führte durch das Dorf, sondern auch das erste Warenhaus des Kantons und das erste Freibad seiner Art auf Baselbieter Boden wurden in Sissach errichtet und lassen den Pioniercharakter des Dorfes erahnen.
Geschichtsträchtiges Zentrum
Dank frühgeschichtlicher Funde auf dem heutigen Gemeindegebiet wissen wir, dass das Dorf schon früh besiedelt war. Die Fundamente der reformierten Pfarrkirche St. Jakob reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück, ein Vorgängerbau muss bereits ab 630 n. Chr. an gleicher Stelle gestanden haben. Die ältesten Bauten entstanden um die St.-Jakobs-Kirche, bevor sich das Dorf nach und nach zum und über den Zunzgerbach ausbreitete und die Bebauung entlang der Rheinfelderstrasse entstand. Die Längsachse der Ortschaft, die heutige Begegnungszone an der Hauptstrasse, war zugleich Teil der Nord-Süd-Achse, die Basel über den Unteren Hauenstein mit dem Gotthardpass verband.
Die strategisch günstige Lage bildete die Grundlage für die Siedlungsentwicklung Sissachs, deren historische Formierung noch heute lesbar ist. Der älteste Gasthof des Dorfes, die «Sonne», wurde 1534 erstmals urkundlich erwähnt und führt uns vor Augen, welche Bedeutung Sissach als Etappenort für Waren- und Personentransport gehabt haben muss. Lange Zeit bildete die Landwirtschaft die wichtigste Beschäftigungsgrundlage, wovon die heute noch zahlreich vorhandenen Bauernhäuser und Scheunen im Dorf zeugen.
Schon früh gab es erste Planungsgrundlagen und Vorschriften, an die sich die bauende Bevölkerung zu halten hatte. Ein Beispiel dafür wäre die feuerpolizeiliche Vorschrift, wonach die schindel- und strohgedeckten Ständerbauten (= stehende Holzkonstruktionen) mehrstöckigen Steinhäusern mit Ziegeldächern weichen mussten. Mit der Auflösung des Flurzwangs wandelte sich die Landwirtschaft vom Ackerbau zur Milchwirtschaft. Auf den das Dorf umgebenden Feldern entstanden Heu-, Futter- und Melkscheunen, wenn nicht sogar ganze Nebenhöfe.
Die Bahn – ein Schlüsselmoment
Begünstigt durch den Verkehr über den Unteren Hauenstein und die sich anbahnende Industrialisierung begann für Sissach zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Zeit der wirtschaftlichen Blüte, die nahezu das ganze Jahrhundert dauern sollte. Die Eröffnung der Eisenbahnlinie Liestal–Sissach im Jahr 1855, einer der frühesten Bahnabschnitte der Schweiz, bedeutete zugleich einen Schlüsselmoment in Bezug auf die weitere Dorfentwicklung. Einerseits entstanden dadurch die Bauten der Centralbahn – ein Ensemble, das bis heute erhalten ist – und die neue Achse der Bahnhofstrasse, wofür 1855 die Schmiede zwischen der «Sonne» und der «Braui» (heute Gemeindeverwaltung) abgebrochen wurde. Mit dem neuen Verkehrsmittel gewann Sissach zusätzlich an Attraktivität und bediente als Knotenpunkt zwischen Basel und Olten das Oberbaselbiet. Bis zur Eröffnung der Hauenstein-Basislinie 1916 war Sissach unangefochtener Bezirkshauptort und weitaus städtischer als Gelterkinden. Neue Seidenbandfabriken wie die Obere und Untere Fabrik siedelten sich auf dem Gemeindegebiet an, ebenso entstanden neue Quartiere für die darin beschäftigten Fabrikarbeiter.
Gescheiterte Planungen
Das Grundstück zwischen dem Stationsgebäude, heute allgemein eher als «avec» bezeichnet, und dem «Cheesmeyer» wurde von der Schweizerischen Centralbahn erworben. Dieses sollte als Bahnhofsplatz ausgebildet werden und eine Verbindung zwischen dem Bahnhof und dem Dorf schaffen. Die dafür eingeplante Freifläche dient seit 1986 als öffentlicher Parkplatz. Das Räumliche Entwicklungskonzept 2040 sieht vor, in diesem Bereich die höchste bauliche Dichte sowie die höchste Nutzungsdichte zu realisieren.
Für die erwähnte Freifläche wird derzeit ein Konzept erarbeitet, das als Quartierplan 1 (QP1) bezeichnet wird. Noch ist ungewiss, was darauf zu stehen kommt. Ein architektonischer Wettbewerb wurde bereits durchgeführt und zahlreiche namhafte Architekturbüros haben sich in der jüngeren Vergangenheit mit der Entwicklung des Areals beschäftigt. Klar ist, dass die Fläche überbaut werden wird. Es stellt sich die Frage, ob hier nicht eine Chance verpasst wurde, eine ansprechende Freifläche mit Aufenthaltsqualität zu realisieren, welche die einst angedachte Verbindung zwischen dem Bahnhof und dem historischen Dorfkern realisiert hätte. Besonders im Hinblick auf die Hitzeminderung spielen Grünflächen und nicht-asphaltierte Böden im Siedlungsraum eine zunehmend wichtigere Rolle.
Neben dem Areal zwischen «Cheesmeyer» und Bahnhof wird auch auf der im Osten angrenzenden Fläche des Quartierplans 2 (QP2) hinter der «Wystube Tschudy» eine «hochwertige Überbauung bestehend aus drei Gebäudekomplexen», entstehen. Zusätzlich wird das 3000 Quadratmeter umfassende Tobler-Areal (ehemals Six Madun) überbaut, worauf insgesamt 40 kleinere bis mittlere Wohnungen errichtet werden sollen. Es scheint fast, als gäbe es heutzutage für eine zentrumsnahe Freifläche nur die Möglichkeit, eine Grossüberbauung mit Gewerbezone im Erdgeschoss und Wohnungen in den oberen Geschossen zu errichten. Dabei gehören auch Freiflächen zum Ortsbild und sind ebenso historisch bedingt wie die Bebauung entlang der Hauptstrasse. Wenn auch beim Quartierplan 2 die Höhe der Gebäude diejenige des «Cheesmeyers» nicht übersteigen wird, bildet sich zum Bahnhof hin ein Neubauquartier. Ob aus dem Zug in Fahrtrichtung Basel oder bei der Ankunft in Sissach – die Neubauten werden das Erste sein, was in Sissach zu sehen ist. Damit entsteht nicht nur eine neue Dichte, sondern auch ein neues Gesicht.
Die Verstädterung des Dorfes
Die Bevölkerungszunahme und die Industrialisierung liessen Sissach schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstädtern. Gewerbe unterschiedlichster Art entstand auf dem zuvor freien Gürtel zwischen dem ursprünglich bäuerlichen Zeilendorf und der Bahnlinie – dem Areal, das gemäss dem Räumlichen Entwicklungskonzept bis 2040 massiv verdichtet werden soll. Bis in die 1930er-Jahre blieb die Grundstruktur des einstigen Haufendorfs mit ausgeprägter Längsachse entlang der Hauptstrasse erhalten und nur wenige Grossüberbauungen entstanden. Die Baudirektion des Kantons versuchte 1930, den Regierungsrat von einem neuen Baugesetz zu überzeugen, mit dem eine grössere Dichte und Höhe der Bebauung vermieden und die Verstädterung der Dörfer aufgehalten werden sollte. Die Erarbeitung des neuen Gesetzes dauerte über ein Jahrzehnt, schliesslich resultierte aber in den 1940er-Jahren ein wichtiger Kompromiss, bei dem die für Wohnbauten geltende Beschränkung auf drei Wohngeschosse festgelegt wurde.
Zeitgleich kam der Wunsch nach einer stärkeren Trennung von Industrie- und Wohngebieten auf – ein Anliegen, das auch heute noch im Räumlichen Entwicklungskonzept anzutreffen ist. Es sieht vor, die lockere Bebauung der Hanglage beizubehalten und das Gebiet um den Bahnhof zu verdichten. Eine Trennung von Wohn- und Gewerbegebieten wird gewährleistet, allerdings wird die historisch festgelegte Dreigeschossigkeit aufgehoben, sodass im Bahnhofsquartier, wo die höchste Dichte angestrebt wird, in Zukunft Bauten mit vier bis fünf Geschossen realisiert werden dürfen und die Freifläche zu einem verschwindend kleinen Bereich verkommt. Im besten Fall wird die bis heute unternutzte Fläche aufgewertet und belebt, im schlimmsten Fall bedeutet dies einen gewaltigen Massstabs-Sprung, als Zeichen unserer Zeit. So oder so geht die Weiträumigkeit des Bahnhofsareals mit der Verdichtung desselben verloren.
Mehr ist mehr – oder etwa nicht?
Die Prognosen zum Bevölkerungswachstum gehen davon aus, dass die Einwohnerzahl Sissachs bis 2035 von aktuell 6800 auf 8100 Einwohner steigen soll. Dank freier Flächen im Siedlungsgebiet und der angestrebten Verdichtung sollten die bestehenden Zonen ausreichen, um die wachsende Bevölkerung der nächsten zehn Jahre aufzufangen. Somit kann verhindert werden, dass das Ortsbild Sissachs verwässert und sich die jetzt schon zerstreute Siedlung noch weiter in der Fläche ausdehnen kann.
Auch in den 1950er- und 1960er-Jahren verzeichnete Sissach ein grosses Wachstum der Bevölkerung, wodurch mehr Wohnraum benötigt wurde. Als Antwort entstanden neue Gesamtüberbauungen sowie Einfamilienhausquartiere wie das «Fischerdörfli» an der Ergolz bei der Oberen Fabrik. Der attraktive Arbeitsort zog zahlreiche auswärtige Arbeitskräfte und Gastarbeiter an, die sich das gehobene Wohnen im Einfamilienhaus (noch) nicht leisten konnten. Neue, erschwingliche Blockwohnungen mussten gebaut werden, womit zugleich eine ortsuntypische Baugattung im Ortsbild Einzug hielt. Mit der damaligen Ortsplanung wurden wichtige Grundlagen für die Gemeindezonen erstellt, die, abgesehen von einzelnen Änderungen, auch heute noch Gültigkeit haben und exemplarisch für den Fortschritts- und Wachstumsanspruch der 1960er-Jahre stehen.
Gleichzeitig wurde für den Ortskern Sissachs eine separate Ortsplanung erstellt, bei der erhaltenswerte Gebäude ausgewiesen wurden. Dieser Massnahme ist es zu verdanken, dass zahlreiche historische Bauten den damaligen Bauboom überstanden haben, da es nur zu verlockend war, an ihrer Stelle ein grösseres, vermeintlich besseres Projekt zu realisieren. Fast 60 Jahre später zeichnet sich eine ähnliche Tendenz am Horizont ab und wir laufen Gefahr, heute alles optimieren und vergrössern zu wollen. Dabei wäre es wichtig, bevor wir mit dem Bauen anfangen, den Flächenverbrauch pro Kopf zu hinterfragen.
Verzichten und verdichten
Wir haben nicht genügend Bauland, um alle in einem Einfamilienhaus unterzubringen. Zudem werden gemäss dem Bundesamt für Statistik 47 Prozent aller Einfamilienhäuser der Schweiz lediglich von einer oder zwei Personen bewohnt. Die Verdichtung, die sich mit Stockwerkeigentum und einer höheren baulichen Dichte auf Einfamilienhausparzellen erreichen liesse, wäre verträglicher für unsere historisch gewachsenen Ortsbilder. Zudem würde diese Art der Verdichtung die Kapazität einzelner fünfgeschossiger Bauten um ein Vielfaches übertreffen. Ganz abgesehen davon stellt sich die Frage, ob die Art der neu angebotenen Wohnungen in Bahnhofsnähe auch den Bedürfnissen der zukünftigen Bewohnerschaft entspricht. Ein Waschturm ersetzt das vielfach gewünschte Wohnen im Grünen nicht. Noch schlimmer als unternutzte Flächen im Zentrum wären teure, leerstehende Wohnungen, die stark lärmbelastet sind.
Das Räumliche Entwicklungskonzept sieht die Verdichtung der Wohnquartiere in Zentrumsnähe ebenfalls vor, genaue Strategien sind bisher aber nicht entwickelt worden. Ein sich aktuell in Planung befindliches Projekt der Kordia-Stiftung sieht ein genossenschaftliches Wohnprojekt vor, das von den Architekten Flubacher Nyfeler geplant wird und bis 2027 fertiggestellt sein soll. Insgesamt sollen auf der freien Fläche beim grossen Spielplatz nördlich der Ergolz 72 Wohnungen in sechs Baukörpern mit vier Vollgeschossen Platz finden. Neben den lobenswerten Komponenten in Bezug auf das geplante Energiekonzept und den gemeinschaftlich genutzten Räumlichkeiten sind lediglich 180 Bewohnende, welche die 72 Wohneinheiten nutzen sollen, theoretisch zu wenig. Wenn Verdichtung angestrebt wird, müssten bei einer Arealfläche von 11 000 Quadratmetern deutlich mehr Bewohnende aufgenommen werden können. Je mehr Menschen die Infrastruktur nutzen, desto kleiner ist der ökologische Fussabdruck jedes Einzelnen. Mehr Mietparteien bedeuten zudem ein höheres Geschäftsguthaben der Genossenschaft, das wiederum in neue Projekte von der Bewohnerschaft für die Bewohnenden oder die Dorfbevölkerung fliessen kann.
Im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) wird betont, dass in Sissach wertvolle bauliche Zeugen für jede Epoche zu finden sind. Die Entwicklung vom Bauerndorf, dem historischen Durchgangs- und Etappenort zum verstädterten Dorf mit attraktiver Infrastruktur und bedeutenden Industrieanlagen lässt sich anhand der Bauten nachvollziehen. Insbesondere diese Verschiedenartigkeit und Vielseitigkeit zeichnen Sissach aus. Obschon die Verstädterung in Sissach, beziehungsweise in den Agglomerationsdörfern im Allgemeinen, immer weiter fortschreitet, bleibt zu hoffen, dass es sich bei den im Räumlichen Entwicklungskonzept vorgesehenen Neubauten um innovative und qualitätsvolle Architektur handelt, die den erwähnten Pioniergeist auch in heutiger Zeit erkennen lässt.
Rahel Gugelmann (1997) ist in Rünenberg aufgewachsen. Sie ist als Architekturhistorikerin tätig. Ihr Beitrag schliesst an den Artikel «Das Ortsbild ist die Kulisse für unser Lebenstheater» in der «Volksstimme» vom 22. Juli an.