Das Erdbeben von Trinidad
01.04.2021 SissachReisen in die Vergangenheit (II): Trinidad und Tobago
Weihnachten 2020. Ich sitze am Strand von Bayahibe, einem kleinen Ort auf Hispaniola, und versuche mich an vergangene Zeiten zu erinnern, in denen man ein Flugzeug oder ein Schiff ans nächste Ziel besteigen konnte. Ich beschliesse, ...
Reisen in die Vergangenheit (II): Trinidad und Tobago
Weihnachten 2020. Ich sitze am Strand von Bayahibe, einem kleinen Ort auf Hispaniola, und versuche mich an vergangene Zeiten zu erinnern, in denen man ein Flugzeug oder ein Schiff ans nächste Ziel besteigen konnte. Ich beschliesse, die Karibik noch einmal zu bereisen – in Gedanken. Es werden Reisen in die Vergangenheit sein.
Hanspeter Gsell
Eigentlich wollten wir zum Karneval nach Rio de Janeiro. Als unser Freund Dottore Umberto dies hörte, erbleichte er und hielt uns eine Gardinenpredigt: «In Rio ist es viel zu gefährlich für allein reisende Schweizer. An der Copacabana lauern Taschendiebe, die Girls von Ipanema sind auch nicht mehr, was sie mal waren, und in den Favelas lauern Mörder und Totschläger. Ich begleite euch, mein Cousin – er lebt schon lange in Brasilien – wird unser Führer sein.»
Leider kam es nicht dazu. «Der Cousin ist im Krankenhaus, ihr müsst den Karneval verschieben», beschied uns der Dottore. «Taschendiebe haben ihm den Geldbeutel geklaut (Copacabana), das Girl (aus Ipanema) kam ihm am Strand deutlich zu nahe, verschleppte ihn in die Favelas, wo sie ihn mit ihrer Handtasche bewusstlos schlug und ausraubte.»
Da man den Karneval nicht verschieben konnte, flogen wir stattdessen nach Port of Spain auf der Insel Trinidad. Denn dort soll es mindestens so wild zugehen wie an der Basler Fasnacht oder am Kölner Karneval. Einfach ein bisschen heisser.
Das Erdbeben weckte uns um drei Uhr nachts. Im Badezimmer klapperten die Zahngläser, eine Tube Zahnpasta fiel auf den Boden. Die Fensterscheiben zitterten und in der Ferne war ein dumpfes Grollen zu hören. Augenblicklich entnahm ich meinem Reisegepäck das Merkblatt des schweizerischen Erdbebendienstes.
«Sofort den nächstgelegenen sicheren Platz aufsuchen.»
Wir warfen uns unter das Bett.
«Auf starke Beben können in zeitlich unregelmässigen Abständen Nachbeben folgen.»
Wir blieben unter dem Bett.
«Einrichtungsgegenstände können umkippen.»
Wir blieben unter dem Bett.
«Deckenverkleidungen können sich ablösen.»
Wir blieben unter dem Bett.
Nachdem die Erde seit Stunden nicht mehr gebebt hatte, krochen wir unter den Betten hervor und gingen frühstücken.
Auf einem Bildschirm im Restaurant lief eine Nachrichtensendung. Es war kein Erdbeben gewesen, das uns aus unseren Betten gebebt hatte. Zumindest keines, bei dem die Erde gebebt hätte. Nein, der Karneval hatte begonnen! Ein menschliches Beben hatte die Stadt erfasst, Menschen stampften schwitzend zu den Beats von Soca und Samba durch die Strassen, prachtvolle Wagen und Kostüme beherrschten die Gassen.
Kleinkinder, kaum des Stehens mächtig, schwangen ihre in Windeln verpackten Hintern, als ob sie bereits tanzend das Licht der Welt erblickt hätten. Ein unvorstellbares Klangerlebnis erwartete uns. Dumpfe Trommeln und Unmengen von Steeldrums verursachten eine orgiastisch instrumentalisierte Kakofonie. Wir taumelten durch den Tag und dachten weder an Rosenmontag noch an Aschermittwoch. Solche Gedanken hätten nur irritiert.
Die Extremitäten der Algen
Nach drei Tagen Karneval flogen wir zur Nachbarinsel Tobago, der Insel aller Sammler. Man sagt uns Menschen ja nach, dass wir Sammler und Jäger seien. Eigenartigerweise tritt der Sammeltrieb vielfach erst im hohen Alter auf. Weltweit gibt es mehrere Gattungen von Sammlern. Die bekanntesten sind wohl die Schmetterlingssammler. Mit lustigen Netzen und bunten Botanisierbüchsen bewaffnet hüpfen sie durchs hüfthohe Gras. Haben sie dann endlich mal ein Exemplar im Köcher, wird es umgebracht und zu Hause an die Wand genagelt.
Es gibt aber auch Muschelsammler. Die chartern schon mal ein Schiff, um noch die abgelegenste Sandbank im Pazifischen Ozean heimsuchen zu können. Sympathischer waren die Vogelkundler auf der Insel Tobago. Sie verliessen das Hotel meistens bereits kurz nach Mitternacht und schlichen durch die Wälder. Wenn dann die Vögel erwachten und ihre frühmorgendlichen Gesänge zum Besten gaben, wurde alles mit einem Tonbandgerät aufgenommen, fotografiert und mit Buntstiften in ein Notizbuch übertragen.
Zur gleichen Gattung gehören die Fischsammler. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Sammeltrieb meistens nur einem einzigen Fischlein gehört. Vielfach sind es unscheinbare Liliput-Fische, die sich hinter Steinen, grossen Muscheln oder Korallenblöcken verstecken.
Der Sammler muss diese unentwegt aufheben und umdrehen. Um später dann mit Sätzen wie «Du glaubst nicht, was ich heute gesehen habe», zu frohlocken. Er wird allen den Unterschied in der Färbung der Afterflosse bei den juvenilen Graubarschen im Westpazifiks gegenüber ihren Artgenossen im Südpazifik erklären.
Zurück im Hotel wird er sein Bestimmungsbuch («Alle Fische dieser Welt») aufschlagen. Um dann beim Abendessen zu erklären, dass er eben eine neue Fischart entdeckt habe. Er hat sie bereits mit Farbstiften in sein Heft gezeichnet. Das Fischlein soll nach seinem oberösterreichischen Entdecker benannt werden und ab sofort «Geheimrat-Doktor-von-Platschensky-Barsch» heissen.
Tobago ist auch für ökologisch interessierte Taucher ein Paradies. Sie lassen gerne ein ganzes Hotel an ihren umweltpolitischen Erkenntnissen teilnehmen. «Ich denke, dass mindestens 60 Prozent der Korallen ausgebleicht und somit tot sind.» Liebevoll reinigen sie alles, was ihnen unter Wasser verschmutzt vorkommt. Mithilfe von Druckluft aus ihren Atemreglern blasen sie schleimige Braunalgen von lieblichen Korallenstöcken.
Man erkennt sie auch an Merksätzen wie: «Freizeittaucher sind eine Umweltkatastrophe. Ich habe gesehen, wie eine amerikanische Tussi mit ihren Flossen einer seltenen Rotkopfalge aus der Familie der Braunblättrigen Küstensumpfalgen auf die Extremitäten gestanden ist.» Obwohl ich entgegnen wollte, dass Küstensumpfalgen meines Wissens nicht über Extremitäten verfügen, verzichtete ich auf eine Wortmeldung.
Ein Herz für Krabbler
Zu einer Untergruppe der Fischsammler gehören Mitglieder von Vereinen wie «Ein Herz für Hunde», «Katzenfreunde Oberursel» sowie Besitzer von Kanarienvögeln und Wellensittichen. Schon wenn sie von Weitem einen kleinen Hund am Strand entdecken, öffnen sich ihre Herzen wie übergrosse Scheunentore. Liebevoll wird das Tier mit einem Steak angelockt.
«Oh mein Gott, dieser arme, arme Hund! Ganz allein auf dieser Welt, vom Herrchen verlassen, ausgesetzt in einer barbarischen Welt.» Eifrig wird ihm das Fell gewaschen, die Ohren geputzt. Da der Vierbeiner ganz und gar nicht allein ist in dieser Welt, sondern einen ganzen Sack voll Untermieter mit sich herumträgt, wird zur nächsten Aktion geschritten. Der Hund wird entlaust, bis die Haare fliegen und der mitgereiste Lebensabschnittspartner in die nächste Bar geflohen ist.
Auf vielen Inseln in der Karibik gehören Krabben zum Lieblingsgetier auf dem abendlichen Buffet. Man hält sie, mehr tot als lebendig, an den Füssen zusammengebunden in Aquarien oder Terrarien. Bestellt nun ein Gast einen solchen Krabbler, naht bereits der Koch und bringt das arme Vieh vom Leben zum Tod. Eva konnte dies nicht mit ansehen und brachte ihren Ehemann dazu, die Kreditkarte zu zücken und sämtliche Tiere aufzukaufen. Sie setzte sie hinter dem Hotel aus, und entliess sie mit einem herzergreifenden «Jööööh» ins wilde Leben.
Die Aktion kostete ein Vermögen, da der Koch nicht bereit war, irgendwelche Spezialpreise oder Mengenrabatte zu gewähren. Und natürlich hockten die Krabbler 24 Stunden später mit zusammengebundenen Beinen wieder auf dem Buffet.
Von Vögelchen und Kreditkarten
Auf vielen Märkten in Asien werden Singvögel aller Gattungen angeboten. Ein Paradies für jeden Italiener: Rotbrüstchen und Nachtigall vom Spiess, dazu eine gebratene, weisse Polenta.
Der Asiate jedoch bewahrt sich die Piepmätze nicht fürs Abendessen auf, sondern hält sie gewissermassen als musikalische Stubendekoration. In winzigen Vogelkäfigen flattern angstvoll kleine Piepser.
Die Verkäufer warten heute nicht mehr nur auf einheimische Käufer. Nein, man wartet auf die Evas dieser Welt, die beim Anblick der Piepmätze Tränen fliessen lassen («Ach die armen, armen Vögelchen!»), worauf der Ehemann die Kreditkarte … den Rest kennen Sie ja.
In Zeiten, in denen an grosse Reisen nicht zu denken ist, erscheint in der «Volksstimme» in loser Folge eine siebenteilige Serie zu Hanspeter Gsells Reise in seine Vergangenheit.
Trinidad und Tobago
hpg. «T&T» ist ein karibischer Inselstaat, der die Inseln Trinidad und Tobago umfasst. Die Inseln sind die südlichsten der Kleinen Antillen und liegen vor der Küste Venezuelas. Sie sind 5128 Quadratkilometer gross und haben mehr als 1,4 Millionen Einwohner. Im Gegensatz zu anderen Inseln der Region sind Trinidad und Tobago nicht vulkanischen Ursprungs, sondern waren einst Teil des südamerikanischen Festlands. Wir besuchten diese Inseln 1987.