«Die Frauenfrage steht über dem Parteibuch»
12.10.2018 Sissach
Jürg Gohl
Umwälzungen, Hippies, lange Haare, kurze Röcke, lauter Rock, der Einmarsch der Russen in Prag, die Ermordung Martin Luther Kings, Unruhen in Paris und Zürich, antiautoritäre Erziehung, Friedensbewegungen: Das Jahr 1968 steht für vieles. Im ...
Jürg Gohl
Umwälzungen, Hippies, lange Haare, kurze Röcke, lauter Rock, der Einmarsch der Russen in Prag, die Ermordung Martin Luther Kings, Unruhen in Paris und Zürich, antiautoritäre Erziehung, Friedensbewegungen: Das Jahr 1968 steht für vieles. Im Baselbiet auch für die Gleichberechtigung, wurde dort doch vor 50 Jahren das Frauenstimm- und -wahlrecht eingeführt (siehe Kasten). Nach Basel-Stadt war das Baselbiet die Nummer zwei unter den Deutschschweizer Kantonen, die der politischen Gleichberechtigung der Frau zustimmten. Auf nationaler Ebene wurde dieser Schritt drei Jahre später vollzogen, 54 Jahre nachdem die Sowjetunion als erstes Land das Frauenstimmrecht eingeführt hatte.
In Sissach haben sich bereits im Jahr 1862 rund 30 Frauen zusammengeschlossen und in einem Manifest die Gleichberechtigung gefordert, unter anderem in der Bildung und im Erbrecht. «Räumen Sie überhaupt dem weibl. Geschlechte gegenüber seinen Pflichten diejenigen Rechte ein, welche dasselbe nicht mehr zum untergeordneten Wesen in der menschlichen Gesellschaft machen, so hat Ihre Behörde das Verdienst ein Werk geschaffen zu haben, dessen gute Früchte sicher nicht ausbleiben werden», schrieben diese sehr mutigen Frauen damals den Verfassungsräten.
«Aber ohne dieses Mädchen»
Wäre die Sissacherin Alice Leber statt 1939 hundert Jahre früher und statt in Reinach an ihrem heutigen Wohnort zur Welt gekommen, würde ihr Name höchstwahrscheinlich auch unter diesem historischen Brief stehen. Denn bereits in jungen Jahren realisierte sie, dass Frauen im Alltag benachteiligt werden. Jedenfalls habe die inzwischen 100 Jahre alte Sissacher Forderung, den Frauen mehr Bildung zukommen zu lassen, zu keinen wesentlichen Veränderungen geführt. «Als Schulmädchen war ich ausgeschlossen von verschiedenen Fächern, die mich interessiert hätten», sagt sie. Statt zu handwerken oder geometrisch zu zeichnen, habe man ihr stricken, nähen und kochen beigebracht, zählt sie auf. Sie untermalt ihre Sätze mit Gesten und Mimik. Wenn es um die Gleichstellung geht, sucht man im Gesicht der 79-Jährigen vergeblich nach Spuren der Gelassenheit.
Immerhin gelang es ihr dank eines aufgeschlossenen Lehrers, im damals noch freiwilligen neunten Schuljahr als einzige Vertreterin des «schwachen Geschlechts» das Fach Staatskunde zu besuchen. Dieses war eigentlich ihren männlichen Mitschülern vorbehalten. Als der Lehrer damals mit seiner Klasse als Gäste eine Gemeindeversammlung besuchen wollte, bewilligte der Gemeinderat das Gesuch mit der Auflage: «Aber ohne dieses Mädchen.» Dieser Satz fiel zwar vor inzwischen 65 Jahren, doch er hat sich in ihren Hirnwindungen festgesetzt. Wie andere Erlebnisse auch.
Zum Beispiel: Als sie als junge Lehrerin im Schulheim Sommerau in Rümlingen Walter Leber heiratete, war es ihr untersagt, weiterhin als vom Gemeinderat angestellte Lehrerin zu unterrichten. Sie war fortan nur noch als «Verweserin» eingestuft, weil eine Ehefrau daheim für die Familie zu sorgen habe. «Allein schon diese morbide Bezeichnung», regt sie sich noch heute über die damals selbstverständliche Zurückstufung auf. «Frauenfragen wie die genannten politisierten mich», sagt sie.
«Hielt dem Mann Rücken frei»
Dabei entsprach sie in der Tat dem Bild dieser gewünschten Ehefrau. Ihr Gatte engagierte sich neben seinem Beruf im Sissacher Gemeinderat und sass als Sozialdemokrat zwölf Jahre lang im kantonalen Parlament. «Und ich hielt meinem Ehemann daheim den Rücken frei», schildert sie ihre Rolle von damals. Und heute kümmert sie sich um die Grosskinder. Damit leiste sie letztlich auch einen Beitrag an die Fauenförderung, weil sie mit ihrem Hütedienst, ganz nebenbei, den Schwiegertöchtern ermöglicht, sich beruflich zu betätigen.
Selber sieht sie sich denn auch nicht als klassische 68erin. Sie engagiere sich ganz einfach für die Gleichstellung, die eher zufällig ausgerechnet in jenem legendären Jahr im Baselbiet einen Schritt nach vorne genommen hat. «Im Oberbaselbiet vollzieht sie sich halt etwas langsamer», glaubt sie, «auch wenn die vielen Zuzügerinnen neue Modelle zu uns gebracht haben.»
Den Weg in die Politik fand sie – trotz ihrer Wut auf die ständige Benachteiligung der Frau – eher zufällig. Sie begleitete im Jahr 1975 ihren Ehemann an eine Versammlung der Ortspartei der SP – so erzählt sie diese Anekdote zumindest. «Zuerst wurde ich dort überredet, mich doch gleich als Parteimitglied einzutragen. Und am Ende des Abends war ich gleich auch die neue Präsidentin der Ortspartei, die faktisch ein Männerklub war.»
Im ersten Anlauf verpasste sie den Einzug in den Sissacher Gemeinderat um vier Stimmen, 1984 klappte es. Sie wurde zur ersten Sissacher Gemeinderätin gewählt. «Eine Frau und erst noch eine Linke», hätten ihre Kollegen gejammert. Dass sie noch heute einen Dialekt aus der Basler Agglomeration spricht, erleichterte ihr die Ankunft im neuen Amt auch nicht sonderlich.
«Eine Frau muss mehr leisten»
Die Frauenfrage ist ihr auch heute wichtiger als das rote Parteibuch. Aus diesem Grund entschied sich die erste Sissacher Gemeinderätin etwa auch zu einem gemeinsamen Werbeauftritt mit der nachmaligen Gemeindepräsidentin Petra Schmidt, als sich die Freisinnige (mit Jahrgang 68) um einen Sitz in der Exekutive bewarb. Alice Leber kniete sich in ihre neue Aufgabe hinein, realisierte den «Strichcode» und verhalf Sissach zum Label «Energiestadt». Auch heute noch ist sie überzeugt: «Eine Frau muss mehr leisten als ein Mann in der gleichen Rolle, um akzeptiert zu werden. Und nur bei Frauen zerreisst man sich die Mäuler über Frisur, Figur und Kleidung.»
Ähnliches erlebte sie sogar im örtlichen Frauenverein, dessen Vorstand sie 20 Jahre lang angehörte, 19 davon als Präsidentin. «Ich musste dafür kämpfen, dass wir das Image des lieben Strick- und Kaffeeklubs los wurden. Auch intern.» Heute werde er, so ist sie überzeugt, als fortschrittlicher Ortsverein wahrgenommen. Mit Bedauern stellt sie fest, dass Frauen viel schwerer zu motivieren seien, ein öffentliches Amt zu übernehmen, obschon dies auch ein wichtiger Aspekt auf dem Weg zur Gleichberechtigung sei.
«Die Gleichstellung der Geschlechter ist nicht mit der Gleichschaltung des Wesens gleichzusetzen», betont die nie ermündende Kämpferin Alice Leber. «Wir bleiben Frauen.»
* Dritter Teil der Serie «50 Jahre 68» im Oberbaselbiet. Bisher erschienen: «Die Haare wurden länger, die Röcke kürzer» (28. September, Seite 7); «In der Musik erhalten alte Noten beste Noten» (4. Oktober, Seite 2). – Wird fortgesetzt.
19 Gemeinden sagten im Oberbaselbiet nein
jg. Die Baselbieter Männer verhelfen am 23. Juni 1968 den Frauen mit einem wuchtigen Ja zum kantonalen Stimm- und Wahlrecht. Ist das gleiche Begehren in den Jahren 1926, 1946 und 1955 noch durchgefallen, so legen nun 9374 Männer ein Ja ein, und nur 4395 ein Nein. Das entspricht einer Zustimmung von 68 Prozent. Allerdings weist die Stimmbeteiligung von 28 Prozent nicht auf eine wegweisende Vorlage hin. Es wird davon ausgegangen, dass die Baselbieter auch mit dem Hintergedanken Ja stimmen, dass die Frauen in der damals bevorstehenden Abstimmung zur Fusion dann mitentscheiden können. Die Frauen gelten zu jener Zeit als Skeptikerinnen in der Frage der Wiedervereinigung.
Auch das Oberbaselbiet erklärt seine Frauen für mündig, wenn auch nicht mit der gleichen Wucht wie der ganze Kanton. Im Bezirk Waldenburg fällt das Verdikt mit 715 zu 586 stimmen, also mit 55 zu 45 Prozent, am knappsten aus. 10 der 17 Gemeinden lehnen das Frauenstimmrecht sogar ab. Im Bezirk Sissach sind es 9 der 29 Gemeinden, in Maisprach (28:44) und Rickenbach (12:23) ist die Ablehnung sogar sehr deutlich. In Häfelfingen und Bretzwil resultiert ein Unentschieden.
Dafür befindet sich im Bezirk Waldenburg die Gemeinde, in der die Frauen zuerst an die Urne gehen dürfen. Als es 1957 darum geht, ob Frauen ebenfalls Zivilschutzdienst leisten dürfen, beschliessen fünf Schweizer Gemeinden, dass in dieser Frage – ausnahmsweise – auch die Frauen mitstimmen sollen. Niederdorf zählt zu ihnen.