«Gästin» schon in Grimms Wörterbuch von 1854

Willi Näf

Jürg, du geschätzter Schreibkollege mit der volksstimmig feinen Feder! Ich muss dich jetzt ein bisschen provozieren. Also, halt dich fest. Letzte Woche hast du ja in deiner wunderbaren Sprachpolizeimeldung hervorragend gebrüllt. Oder mindestens sehr gut. Jedenfalls nicht schlecht. Mit diesem Einstieg wäre das Augenzwinkern als Kernbestandteil dieser Replik etabliert und ich komme zur Sache, lieber Jürg, nämlich zu deinen Gästen.

Ich weiss, du liebst Gäste nur männlich. Aber ich liebe sie auch weiblich. Ich bin gelernter Koch und sage dir: Eine Frau, die vorfreudig ein Restaurant betritt und plaudert wie eine Frau und lacht wie eine Frau und sich bewegt wie eine Frau, und die von der Dauerwelle bis zur Zehenspitze mit Leib und Seele alles andere als generisch maskulin aussieht und klingt – so eine Frau kann ich einfach nicht als «ein Gast» bezeichnen. Mir fehlt da etwas. Etwas Schönes.

«Sexus und Genus sind doch gopfredli nicht dasselbe!», wirst du jetzt knurren. Und natürlich hast du uneingeschränkt recht. Die Männlichkeit des weiblichen Busens und die Weiblichkeit der männlichen Prostata beschränken sich auf die Grammatik. Ich verwechsle das grammatikalische und das physische Geschlecht nicht aus Unwissen, sondern mache es extra, und zwar im Gedenken an die Gebrüder Grimm.

Du kennst die Grimms. Jacob und Wilhelm, Märchensammler, Sprachwissenschaftler, 19. Jahrhundert. Ihr grosses Grimm’sches Wörterbuch galt damals als das Standardwerk der deutschen Sprache. Und weisst du, was die Grimms in ebendiesem Werk aufführen? Ja, genau, die «Gästin». Und das im Jahr 1854. Den gängigen Gebrauch des Begriffs haben die zwei auch gleich hübsch mit zahlreichen Belegstellen unterfüttert. Es kommt noch besser, lieber Jürg: Die Grimms belegen auch den Gebrauch von «Engelin», «Geistin», «Teufelin» oder «Männin».

Offenbar hat «die Gästin» sich nun auf dem Weg ins 21. Jahrhundert verlaufen. Frag mich nicht, warum. Und «die Engelin» hat sich wohl verflogen und «die Geistin» ist entschwebt, Aufenthaltsort unbekannt. Darum haben wir Zeitgeniessenden (judihui!) diese Begriffe nicht kennengelernt. Und wenn wir sie nun hören und lesen, gellen uns die Ohren und den Augen wird es trümmlig.

Aber, lieber Jürg, mal ehrlich: Passt «Engelin» nicht viel besser zu den langhaarigen und femininen Flügelwesen, mit denen die Malenden (judihui!) uns seit Jahrhunderten beglücken? Hast du schon mal einen Engel mit Glatze, Bart oder Bürstenschnitt gesehen? Eben. Für mich waren Engel immer Engelinnen. Ohne Körbchengrösse zwar, das gebe ich zu, aber damit kann ich leben, es senkt den Energieverbrauch der Flügel beim Abheben. Und sag mir, was du willst, aber dass der maskuline Heilige Geist in der Kunst stets von einer femininen Taube dargestellt wird, ist kein Zufall.

Ja ja, ich weiss, lieber Jürg, Genus und Sexus. Ich habe die Grammatik durchaus im Kopf. Aber ich habe eben auch Bilder im Kopf. Und wenn bei mir Grammatik und Bilder aufeinanderprallen, gewinnen oft die Bilder. Und dann frage ich mich, wer denn eigentlich bestimmt, was falsch und was richtig zu sein hat. Die Gebrüder Grimm sind es nicht. Die Sprachpolizierenden (judihui!) sind es auch nicht. Und auch nicht das Regelwerk der deutschen Sprache, der Duden, denn wenn dem so wäre, müsste er nicht so entsetzlich viele Ausnahmen zulassen.

Es ist die Macht der Gewohnheit, die eine Regel ins Regelwerk schiebt. Und Gewöhnung entsteht im alltäglichen Gebrauch. Darum ist unser Deutsch ein so fürchterlicher wie wunderbarer Pott voller eingebürgerter Fehler. Der Alptraum ist ein Albtraum, zumindest für uns rüstige Semester, Jürg, die wie wir noch wissen, was ein Alb ist. Nicht wahr. Und als «Bureaux» eingedeutscht wurde, haben die Altvorderen sicher aufgeschrien. Für sie muss «Büro» schlimm ausgesehen haben. Aber wir haben uns daran gewöhnt und sehen das Schlimme nicht mehr. Wir gewöhnen uns an die Beamtinnen darin. Und an die Sosse auf der Speisekarte, obwohl sie uns als Sauce viel besser geschmeckt hat, fast noch besser denn als Tunke. Und fast glaube ich, wir werden uns auch an die Gästin gewöhnen.

32 Jahre ist es her, seit mein erster Print-Chefredaktor mir nach der Lektüre eines Probetextes eine Redaktionsstelle anbot, und er tat es mit einer Bemerkung, die ich nicht mehr vergessen habe: «Wenn du erst einmal alles vergessen hast, was dir dein Deutschlehrer beigebracht hat, wird aus dir ein guter Jahrgang.»

Meines braven Deutschlehrers Werkzeug war der Duden, und der Duden ist doch die wahre Sprachpolizei. Er ist auch mir lieb und recht teuer, ich brauche ihn beim Schreiben, als Freund und Helfer. Aber er ist nur der Gesetzeshüter. Der Gesetzgeber ist er nicht. Er kann nicht gegen den Souverän agieren, gegen den Volksmund. Wenn der nämlich sagt, was Sache wird, stellt sich der Duden noch eine Weile schützend vor das Althergebrachte, muss aber früher oder später zähneknirschend die Segel streichen und die neue Gewohnheit ins Regelwerk eingemeinden, selbst wenn sie kreuzfalsch ist, weil der Meerrettich nichts mit dem Meer zu tun hat, sondern mit der Mähre, von der aber auch nur noch die rüstigen Semester, du weisst schon …

Ist es eine Kapitulation? Oder nur Pragmatismus? Frag mich nicht. An der Sachlage ändert sich ja nichts. Und daran denke ich bisweilen, wenn ich als Autor an der Tastatur sitze und mich bei dieser oder jener Formulierung nicht entscheiden kann, ob ich dem Gesetzeshüter oder dem Gesetzgeber folgen soll – oder der Kunstschaffendenfreiheit (judihui), die es ja auch noch gibt.

Gegen die Gästin habe ich mich viele Jahre lang gewehrt. Aber seit ich erfahren habe, dass der Volksmund schon vor 170 Jahren Gästinnen kannte, benutze ich den Begriff. Und das im Wissen, dass mancher Bruder im Geiste meinen Text liest und heftig den Kopf schüttelt. Ich weiss doch, wie das läuft: Ein Text kann noch so gescheit sein, aber wenn darin der Begriff «Gästin» vorkommt, dann ist der das Einzige, was den Gelesenhabenden (judihui!) bleibt. Sie sehen in ihm ein gesellschaftspolitisches Statement, obwohl es keins ist. Ein Wirt, der seine Gäste in der Speisekarte begrüsst mit «Liebe Gästinnen und Gäste», wird Gäste verlieren. Darum macht er es nicht.

Ob du, lieber Jürg, dich mit der Gästin ebenfalls anfreunden könntest, in Verneigung vor den Gebrüdern Grimm? Du brauchst ja deswegen nicht gleich aus dem Gasthaus Ochsen das Gästinnenhaus Kuh zu machen, oder das Wirt*I_xhaus Rindvieh. Aber ja, etwas Mut bräuchtest du schon. Du würdest riskieren, dann und wann missverstanden zu werden.

Nun wirst du mich auf den vermutlich wichtigsten Satz deiner Kolumne aufmerksam machen, mit dem du die grösste Crux dieser Tschenderei exakt auf den Punkt bringst: «Wer von der Gästin schreibt, müsste auch die Menschin in sein Vokabular aufnehmen.» Da bin ich ganz bei dir. Ich warte seit Jahren darauf, dass irgendein wildgewordenes Geschwader «weiblich gelesener Mitmenschen» (judihui!) die Idee aufs Transparent bringt, schwer bewaffnet mit vielen Ausrufezeichen.

Es wäre ein fantastisches Desaster. Würden wir «die Menschin» akzeptieren, dann müssten wir der Menschheit entweder den Status der Spezies aberkennen, oder sie als zwei Spezies definieren, die Menschheit und die Menschinnenheit. Dann würde aus der natürlichen Ordnung der Arten eine unnatürliche Unordnung der Unarten und so mancher Naturwissenschaftler müsste vor der Arbeit einen Joint rauchen. (So wie es die Geisteswissenschaftler ohnehin tun.)

Mich beruhigt es, dass bisher noch niemand «die Menschin» ernsthaft postuliert hat. Vielleicht ist das selbst den Ultras zu absurd. Oder sie fürchten die Schlacht, die sie auszutragen hätten. Darum bin ich guten Mutes, dass wir es machen dürfen wie die Gebrüder Grimm: Die Gästin zulassen, aber trotzdem auf die Menschin verzichten. Wir können die grösste Stärke in Anspruch nehmen, die unsere mutterländische Vatersprache uns unentgeltlich zur Verfügung stellt: die Ausnahme.

Im Prinzip betrachte ich das fast schon als Pflicht, denn wenn doch der liebe Gott oder die liebe Göttin oder das himmlische Paar uns Bewohnende (judihui!) des deutschen Sprachinnen- und aussenraums offenbar mit einer speziell komplizierten Sprache beglückt hat, dann ist es doch unsere heilige Pflicht, die göttliche Kompliziertheit weiter zu pflegen und auszubauen, oder nicht, lieber Jürg?

Für Leute wie uns gibt es keine schönere Spielwiese als die deutsche Sprache in ihrer ungeheuren Biodiversität. Wir toben uns darauf aus, der Hofnarr vielleicht noch ein wenig hemmungsloser als der Journalist, aber etwas gilt für beide, denke ich: Sie schreiben ihre Kolumnen mit viel Vergnügen.

Willi Näf ist Satiriker und Autor, Heimwehappenzeller und Wahlbaselbieter. Er lebt in Bubendorf.

SPRACHPOLIZEI

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