Erschlagen

«Sparen Sie sich dieses grossartige Buch unbedingt für die Zeit nach Ihrer Pensionierung auf», sagte der Professor, «jetzt ist es für Sie noch zu dick.» Er blickte über den Rand seiner Lesebrille in den vollbesetzten Hörsaal, als wolle er damit dem Gesagten zwei, drei Kilo Bedeutungsschwere verleihen. Also nie, dachte sich der junge Student. Er sass in der obersten Reihe, befasste sich gerade mit den «wichtigsten Werken des 20. Jahrhunderts» und rang nach einem langen Fussball-Abend noch um seine Konzentration.

Alleine der Titel verspricht wenig Prickelndes, hat sich der angehende Lehrer (oder zumindest etwas Ähnliches) wohl gedacht: Wie kann ein Autor überhaupt 1000 Seiten über einen «Mann ohne Eigenschaften» schreiben, mag er im inneren Dialog noch zu sich gesagt und sich zum Spruch gratuliert haben. Danach verbannte er den angeblichen Klassiker von Robert Musil sogleich aus den Gehirnwindungen.

Das änderte sich weit mehr als 40 Jahre später. Der damalige Germanistikstudent, der es doch nicht ganz zum Lehrer gebracht hatte, wohnte einer Podiumsdiskussion bei und rang dabei wieder einmal um seine Konzentration. Der Blick des inzwischen tatsächlich pensionierten Zuhörers schweifte dabei über das Regal mit antiquarischen Büchern. Und da stand er plötzlich, der Schmöker mit dem unattraktivsten Titel der Literaturgeschichte. Sogleich katapultierte das Werk den ergrauten Mann zurück in das vergangene Jahrtausend und in die Vorlesung am Petersplatz.

Als er heimkehrte, war er um 10 Franken ärmer und um 1000 Seiten reicher. Weil das Lesetischchen unter der Last anderer Bücher bereits einzubrechen droht, stellte er die neue Buchbeute in das Regal. Dort kann dieser langweilige Herr Seite an Seite mit der vollschlanken Anna Karenina flirten und von dort mitleidig auf die zumeist noch ungelesenen gesammelten Werke von Jeremias Gotthelf, dem Pfarrer aus dem Tal des löchrigen Käses, herunterblicken. Musils Buch ist gemäss dem damaligen Professor nur ein Fragment. Das fällt dem neuen Besitzer wieder ein. Offenbar hat Schnitter Tod dem Robert Musil ein paar hundert Seiten abgeschnitten.

Das Hauptwerk von Robert Musil sei «ein Jahrhundertwerk deutscher Prosa und ein herausragender europäischer Roman des 20. Jahrhunderts». So steht das zumindest im «Buch der 1000 Bücher». In diesem Werk finden sich wiederum alle wichtigen Autorinnen und Autoren mitsamt ihren prominentesten Werken und ihrer Wirkung auf die Literatur beschrieben. Darunter natürlich auch der «Mann ohne Eigenschaften».

Dieses Literaturlexikon stand genau an der Stelle, die zuvor Musils Langweiler eingenommen hatte, und zog bei der nächsten Podiumsdiskussion den Blick des Fast-Lehrers magisch an. Inzwischen sind die beiden Wälzer wieder vereint. Dabei wirft sich das erschlagende Nachschlagewerk in Bodybuilder-Pose und blickt mit seinen mehr als 1200 Seiten halb mitleidig, halb spöttisch auf das konturenlose Musil-Männlein herunter.

Jürg Gohl, Autor «Volksstimme»

HERZBLUT

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