Die Sackmesser

Das Telefon, zugleich Kino, Kompass und Lexikon, habe etwas Degeneratives und könne süchtig machen, behaupteten viele Pädagogen und Ewiggestrige, als das Smartphone sich in jeden Schulsack schlich. Nach und nach eroberte es auch die Hosen- und Handtaschen fast aller Gegen-den-Strom-Schwimmer, die sich zunächst auf den Standpunkt gestellt hatten, nicht jederzeit erreichbar sein zu müssen.

Ich liebe mein Handy. Auch deshalb, weil mir auf Wanderungen Spotify den Takt vorgibt. Weil ich die köstlichen Bratwürste der Farnsburg-Metzg bargeldlos mit Twint bezahlen kann. Und weil ich dank Ticket-App jederzeit in einen Bus oder einen Zug steigen kann, wenn meine Beine nicht mehr wollen, ohne dass ich vor dem Billettautomaten einen Nervenzusammenbruch habe. Das vielseitige Handy ist das neue Sackmesser.

Kürzlich schnürte ich die Wanderschuhe, und packte Trinkflasche, Studentenfutter und das Handy samt Kopfhörern ein. Ich wählte eine meiner Lieblingsrouten: Sommerau– Wisenberg–Läufelfingen. Bei Rünenberg stach mir der Wanderwegweiser «Anwil 2h 10min» ins Auge. Die «Beach Boys» in meinem Ohr meinten dazu «Wouldn’t It Be Nice». Ich war ganz ihrer Meinung.

Ich bereute es bald: Die gelben Wegweiser führten mich sogleich aus dem Wald an die pralle Sonne und auf asphaltierte Strassen. In Zeglingen war der Anwil-Wegweiser verschwunden, stattdessen boten sich «Oltingen 1h 15min» oder die «Geissflue 1h 40min» an. Ich schimpfte nicht jugendfrei auf die Wanderwegplaner und wählte Oltingen als neues Ziel. Die «Beach Boys» hatten da noch «Good Vibrations», ich weniger, denn zwischen Zeglingen und Oltingen liegt die «Zigflue 40min». Der Aufstieg war steil, aber wenigstens zumeist im Schatten, und die Aussicht war den Schweiss wert.

Wenige Wanderminuten nach der Zigflue-Rast waren die «Oltingen»-Wegweiser wie vom Erdboden verschluckt. Jetzt zückte ich das elektronische «Sackmesser». Der blaue Punkt auf der Karte zeigte mir, wo ich mich befinde und in welche Richtung ich mich bewege. Ich machte gehorsam rechtsumkehrt, ging 100 Meter, konsultierte das Navi wieder und wechselte erneut die Richtung. Nach dem vierten Hin und Her steckte ich das Gerät weg und liess es darauf ankommen – und siehe da: Oltingen lag mir bald schon zu Füssen.

Weiter ging es durchs Naturschutzgebiet in Richtung Rothenfluh. Die Talweiher waren ein schöner Abschluss der Wanderung. Automatisch griff ich zum Handy, um die Postauto-Abfahrtszeiten nachzuschlagen. Aber: kein Empfang! Nach anfänglicher Panik tauchten aus dem Nebel der Erinnerung die Fahrpläne an den Haltestellen auf. Als Nächstes stellte sich im Funkloch die Frage nach dem Aktivieren der GPS-gestützten ÖV-Bezahl-App. Ohne nun näher darauf eingehen zu wollen: Auf meiner nächsten Wanderung werden mich das Militärsackmesser aus Metall, eine Karte aus Papier und harter Schweizer Franken begleiten. Wie einen Ewiggestrigen.

Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»

HERZBLUT

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