Regina Wenk war im Erdbebengebiet Südtürkei im Einsatz

Regina Wenk leistet im Auftrag der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und anderen Organisationen Einsätze in Katastrophengebieten – so auch im Erdbebengebiet in der türkischen Provinz Hatay. Im Interview spricht die 57-Jährige über ihren Aufenthalt in Antakya und die Folgen des Erdbebens.

Elmar Gächter

Frau Wenk, was haben Sie angetroffen, als Sie mit dem Soforteinsatzteam des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SET) im Erdbebengebiet angekommen sind?
Regina Wenk: Die ganze Provinz Hatay mit ihrer Hauptstadt Antakya weist unfassbare Zerstörungen auf. Wir gehen davon aus, dass gegen 90 Prozent aller Gebäude der 400 000 Einwohner zählenden Stadt entweder stark beschädigt oder ganz eingestürzt sind. Viele Häuser zeigen in den Erdgeschossen oder in den oberen Stockwerken strukturelle Schäden wie herausgebrochene Wände oder Scherrisse in den Ausfachungen. In der Stadt ist es ruhig, Militär- und Polizei-Patrouillen fahren mit Blaulicht durch die Strassen. Ein Grossteil der Bevölkerung lebt in Camps am Rand der Siedlungen. Entlang der Strassen gibt es Zelte für Essensausgaben und vor allem grosse Mengen an Trinkwasserflaschen. Es liegt zwar ein Verwesungsgeruch über der Stadt, der jedoch wegen der tiefen Temperaturen, die nachts meist unter dem Gefrierpunkt liegen und am Tag nicht mehr als 5 Grad erreichen, erträglich ist.

Haben Sie in Ihren vielen Einsätzen, unter anderem beim Erdbeben in Haiti, schon jemals Ähnliches erlebt?
Nein, in diesem Ausmass und mit den dauernd spürbaren Nachbeben noch nie. Ganz speziell ist mir der 20. Februar eingefahren, als wir im Camp ein neues Team begrüssten und ein Kollege Geburtstag hatte. Wir genossen das Nachtessen und Kuchen, als plötzlich die Erde anfing, sich zu bewegen. Ich lief sofort aus dem Zelt, konnte mich jedoch nicht auf den Beinen halten, fiel zu Boden und hörte schreiende Menschen um unser Camp. Wie lange das Beben mit einer Magnitude von 6,4 dauerte, kann ich nicht sagen. Eine Frau fiel starr vor Angst ins Koma. Nach diesem Ereignis wusste ich unsere Zeltunterkunft noch mehr zu schätzen.

Welche Aufgaben waren Ihnen übertragen?
Unsere Rettungskette (Usar-Team, Urban Search and Rescue) stand rund um die Uhr im Einsatz, um nach Überlebenden zu suchen. Meine Kollegen konnten elf Menschen retten, darunter auch ein Kind. Als Mitglied des SET, das in einer unmittelbar anschliessenden Phase die Bedürfnisse der Bevölkerung abklärt und sich auf die nötige Überlebenshilfe wie die medizinische Versorgung, winterfeste Unterkünfte, Hygienematerial und weiteren Bedarf samt Lebensmitteln konzentriert, war ich als «Structural Engineer» im Einsatz. Ich klärte zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen ab, in welchem Zustand sich die für die Grundversorgung wichtigen Gebäude wie Spitäler und Schulen befinden.

Gibt es überhaupt noch solche gebrauchstauglichen Bauten?
Erstaunlicherweise ja. So konnten wir bei einem sechsstöckigen Spital Entwarnung geben. Während ringsum die Gebäude unbrauchbar sind, blieb diese rund 10 Jahre alte Baute mitten in der Altstadt weitgehend unbeschädigt. Deshalb konnten wir in Absprache mit den Behörden grünes Licht geben, diese lebenswichtige Einrichtung weiterhin zu betreiben. Spannend ist auch, dass die von uns überprüften Schulbauten recht gut erhalten geblieben sind. Dies im Gegensatz zu den vielen privaten, auch neueren Gebäuden, die weitgehend zerstört sind.

Worauf führen Sie dies zurück?
Vor allem in den umliegenden Dörfern ist das Schadensausmass gewaltig. Ein ganz wesentlicher Grund ist die Konstruktionsweise der Gebäude. Das erste Stockwerk ist meist hoch und im Innern kaum ausgefacht, da diese Ebene vor allem für die Tierhaltung benutzt wird, während in den oberen Stockwerken in vielen Räumen die Menschen wohnen. Diese Leute müssen jetzt meist in ihren teilweise behelfsmässigen Zelten auf Lastwagen oder landwirtschaftlichen Anhängern ausharren.

Sie sehen in Ihren Einsätzen jeweils viel menschliches Leid und Elend. Wie halten Sie diese belastenden Situationen aus?
Einfach ist es nicht. Da hilft es enorm, sich mit dem Team auszutauschen und mit Freunden in der Schweiz Kontakt zu halten. Für ganz besonders schwierige Situationen stehen Psychologen der Deza vor Ort oder nach der Rückkehr zur Verfügung, was ich sehr wichtig finde und schätze.

Gibt es nicht auch Zeiten, in denen Sie sich fragen: «Weshalb tue ich mir dies an?»
Nein. Es ist immer so, wenn sich irgendwo auf der Welt eine Katastrophe ereignet, weckt das in mir das Bedürfnis, dorthin zu gehen und zu helfen. Ich bin jeweils stark berührt von den Einsätzen und stolz, Teil eines Teams zu sein, das der Bevölkerung vor Ort helfen kann. Dafür setze ich mit Herzblut mein Fachwissen ein. Ganz stolz bin ich speziell auf unsere Rettungskette, die hier in der Türkei mit ihrem grossen Einsatz Menschenleben retten konnte.

Von einem Ende der Einsätze somit noch keine Spur?
Solange man mich benötigt, werde ich sowohl für die Deza als auch für das Schweizerische Rote Kreuz und andere Organisationen Einsätze leisten. Der nächste folgt bereits Ende des Monats, wenn ich nach Haiti fliege und dort in den Bergregionen Erdbebenschutzunterkünfte im Bau unterstütze.

Erdbeben in der Türkei und Syrien

sda. Einen Monat nach der Erdbeben-Katastrophe ist in der Türkei die bestätigte Zahl der Todesopfer erneut leicht gestiegen. Sie liege nun bei 46 104, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Montag nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Zuletzt hatte die Türkei 45 968 Todesopfer gemeldet. Insgesamt sind bei dem Beben in der Türkei und Syrien mehr als 50 000 Menschen ums Leben gekommen. Erdogan sagte, etwa 230 000 Gebäude seien eingestürzt oder müssten abgerissen werden. Man wolle innerhalb von zwei Monaten 100 000 Container aufstellen und eine halbe Million Menschen dort unterbringen.
Am 6. Februar hatten zwei Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und den Nordwesten Syriens erschüttert. Darauf folgten Tausende Nachbeben. Nach Angaben der türkischen Regierung sind rund 20 Millionen Menschen im Land von den Auswirkungen betroffen.

Modell für Erdbeben in der Schweiz

sda. Über einen Zeitraum von 100 Jahren können Erdbeben in der Schweiz zwischen 150 und 1600 Todesopfer fordern und zwischen 40 000 und 175 000 Personen das Dach über dem Kopf wegnehmen. Das zeigt ein neuer Bericht des Schweizerischen Erdbebendienstes.
Zudem könnten Beben allein an Gebäuden und ihren Inhalten wie Möbel einen wirtschaftlichen Schaden von 11 bis 44 Milliarden Franken verursachen, schrieb der Schweizerische Erdbebendienst (SED) in einer Mitteilung zur Veröffentlichung des ersten Erdbebenrisikomodells am Dienstag. Hinzu kommen Schäden an der Infrastruktur und Verluste durch andere Folgen von Erdbeben wie Erdrutsche, Brände oder Betriebsunterbrechungen.
Das grösste Risiko besteht laut dem Risikomodell in der Schweiz für die Stadt Basel, gefolgt von Genf, Zürich, Luzern und Bern. In allen fünf Städten leben zahlreiche Personen, die bei einem Erdbeben betroffen wären. Zudem verfügen diese genannten Städte über viele, teils besonders verletzliche Gebäude, die oft auf einem weichen Untergrund stehen, der Erdbebenwellen verstärkt.
Um die möglichen Folgen von Erdbeben auf Personen und Gebäude zu ermitteln, hat der SED an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETH Zürich) 3 Millionen einzelne Erdbeben simuliert, die sich in der Schweiz und dem grenznahen Ausland ereignen könnten. Die mehr als 2 Millionen Wohn-, Geschäftsund Industriegebäude in der Schweiz wurden nach bestimmten Kriterien in Verletzbarkeitskategorien eingeteilt, um die möglichen Schäden infolge von Erdbeben zu modellieren. Darüber hinaus wurde der Untergrund, also die Struktur des Bodens, in die verschiedenen Modelle miteinbezogen.
Das Modell werde in den nächsten Jahren noch verbessert. Es wurde vom SED in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Umwelt (Bafu), dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs), der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) und weiteren Partnern aus der Wirtschaft erstellt.

Zur Person

emg. Regina Wenk lebt zusammen mit ihrem Mann Thomas in Bennwil. Sie ist als Tiefbauzeichnerin, Bauleiterin, Projektleiterin und «Structural Engineering» ausgewiesene Baufachfrau und hauptberuflich als Leiterin Werkhof der Stadt Aarau tätig.
Ihren ersten Einsatz für die Deza leistete sie 2005 beim Tsunami in Banda Aceh in Indonesien. Jedes Jahr ist sie in zwei bis drei Gebieten unterwegs, wo sich Hilfe bei Naturkatastrophen und Krieg aufdrängt, inzwischen in mehr als 20 Ländern. Ihre Funktionen bei diesen Einsätzen sind «Structural Engineer», Wasserspezialistin, Shelter (Unterkünfte) oder Generalistin.

«Habe noch nie eine solche Katastrophe erlebt»

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