Wühlen im Spam
28.09.2021HERZBLUT
Als mir mein Computer neulich riet, das neue Betriebssystem zu installieren, schrillten bei mir die Alarmglocken: «Big Sur» hat Apple die Software getauft, nach einem Küstenstreifen in Kalifornien mit steil ins Meer abfallenden Felsen. Ich ...
HERZBLUT
Als mir mein Computer neulich riet, das neue Betriebssystem zu installieren, schrillten bei mir die Alarmglocken: «Big Sur» hat Apple die Software getauft, nach einem Küstenstreifen in Kalifornien mit steil ins Meer abfallenden Felsen. Ich fühlte mich wie ein Klippenspringer, der auf der Kanzel steht und nicht mit letzter Sicherheit weiss, ob der Sprung tödlich enden würde. «Die werden schon wissen, was sie tun», dachte ich und klickte auf «OK». Nach langem Bangen lief das Notebook wieder. Freude herrschte! Allerdings lässt es sich fürs Aufstarten seither doppelt so viel Zeit wie mit der Vorgängerversion und zehnmal so lange wie damals, als das Gerät neu, das Betriebssystem schlank und Adolf Ogi noch Bundesrat war. Auch im Betrieb agiert der Rechner jetzt mit Gemach. Wahrscheinlich überprüft er nun – in meinem Interesse – jede Eingaben auf Plausibilität. Wäre dem nicht so, müsste ich mich ja darüber ärgern, dass der Akku innert noch kürzerer Zeit leergesaugt ist, «Siri» meinen Oberbaselbieter Akzent noch weniger mag, die Suche nach den Startsymbolen für die Programme zur Schnitzeljagd geworden ist und die Voreinstellungen durcheinandergewürfelt wurden.
Vielleicht bin ich da etwas eigen, wenn ich erwarte, beim Start des E-Mail-Programms automatisch in den Posteingang geführt zu werden. Denn «Big Sur» schickt mich stattdessen als Erstes in den Spam-Ordner mit den E-Mails, von denen ich gar nichts wissen möchte. Was sich da alles angesammelt hat: Fleurop riet mir, meiner Liebsten wieder einmal eine blumige Überraschung zu machen. Welche Liebste? Da hat jemand seine Hausaufgaben aber nicht gemacht. Ab in den Papierkorb! Genauso wenig brauche ich einen Teppich, Bartpflegeprodukte oder ein Gartenhaus. Nichts gegen Gartenhäuser – aber im zweiten Stock ergibt das herzlich wenig Sinn: Papierkorb.
Schmeichelhaft hingegen fand ich die Einladung des Entwicklers einer futuristischen Selbstversorger-Solar-Jacht inklusive Pflanzgarten auf Deck, in sein -zig-Millionen-Projekt zu investieren. Gerne, aber womit? Die Antwort fand sich in der nächsten Spam-Mail. Ich stünde kurz davor, ein Vermögen zu machen. Ich bräuchte dafür nur einem in Not geratenen Mann aus El Salvador 50 000 Franken zu überweisen, um ihm aus einer Notlage zu helfen; er würde es mir mit dem zwanzigfachen Betrag danken. Verlockend zwar, aber da spiele ich lieber Euromillions – eine weitere Einladung im Spam. Ich befragte vorsichtshalber Google über meine Gewinnchancen und warf auch Jacht und lockende Millionen über Bord.
Persönlich genommen habe ich die Angebote, mir Gedanken über die Anschaffung eines Hörgeräts oder eine Gleitsichtbrille zu machen. Frechheit! Was denn noch? Ein Rollator? Eine Schnabeltasse? Eine Hüft-OP? Jetzt reichts aber! Zu meiner Erleichterung akzeptiert der Computer «Befehl» + «A» für «alles markieren» und «Delete» für «löschen» noch. Ich warf den ganzen Rest-Müll über die Klippen von Big Sur und sah sie eine gefühlte Ewigkeit später im Meer versinken. Immerhin. Danke, Apple!
Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»