Die «Volksstimme» wünscht frohe Festtage

  24.12.2017 Baselbiet, Medien

Die Weihnachtsgeschichte ist in zwei Versionen überliefert. Der Evangelist Lukas erzählt von turbulenten äusseren Umständen, denn Kaiser Augustus hatte eine Volkszählung angeordnet. Jedermann und -frau mussten sich in seinem oder ihrem Heimatort in Listen eintragen lassen. Das bedeutete Reisestrapazen aller Art und Unsicherheiten, organisatorische Engpässe und viele Mühen. In Sätzen wie «Kein Raum in der Herberge» (Josef und Maria) oder «Fürchtet euch nicht» (die Hirten auf dem Feld) klingt es nach. 

Der Evangelist Matthäus erzählt von inneren Unsicherheiten. Josef, verlobt mit Maria, realisiert auf einmal, dass Maria schon schwanger ist. Weil er sie nicht blossstellen will – er sei «gerecht», was damals bedeutet, er handelt gut am anderen –, plant er, sich unauffällig von ihr zu trennen. Liebe soll vor Recht stehen, denn Maria hätte angeklagt, nach dem Gesetz sogar gesteinigt werden können. Josefs Zögern lässt einen sensiblen Menschen erkennen. Im Traum erfährt er, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Initiator von Marias Schwangerschaft sei Gottes schöpferische Geisteskraft. 

Die Leser des Evangeliums erfahren damit dies: Wie damals am Anfang der Welt, so initiiert Gott nun mit dem Kind nochmals eine neue Schöpfung. Im altorientalischen und antiken Verständnis bedeutet Schöpfung die Herstellung von lebensmöglicher Ordnung inmitten einer Welt, in der chaotische, gefährdende, des­truktive Kräfte am Werk sind. Und Josef lässt sich auf die Ermutigung im Traum ein, bleibt bei Maria, heiratet sie. Gott kann ordnend-schöpferisch Anfänge initiieren, aber dann braucht es Menschen, die diese Anfänge wahrnehmen und weiterführen. 

Mit lebensmöglicher Schöpfung haben auch die beiden Namen des Kindes zu tun: «Jesus», weil Gott «sein Volk retten wird von ihren Sünden», und «Immanuel», was «Gott ist mit uns» bedeutet und besagt, dass Gott selbst das «mit uns» initiiert. Und auf seinen Anfang hin können, dürfen Menschen die Fortsetzung machen. «Können» oder «dürfen», ja. Denn Gottes Mit-uns-Sein hängt gerade nicht davon ab, ob wir sämtliche Ideale dafür mitbringen. Gottes Mit-uns-Sein ist vielmehr ganz grundsätzliche Voraussetzung.

Und um genau das zu unterstreichen, lässt Matthäus am Anfang erst mal den Stammbaum Jesu «Revue» passieren. Und da zeigt sich: Die heilige Familie ist gerade keine heile Familie. Es ist eine von Brüchen, Ungereimtheiten und Skandalen geprägte Familiengeschichte. An vier Stellen wird der Stammbaum mit fast ausschliesslich männlichen Namen in Kapitel 1,1–18 von Frauennamen unterbrochen. Tamar, Rahab, Rut, Batscheba. Da ist die kinderlose verwitwete Tamar. Nach dem Willen ihres Schwiegervaters Juda soll sie Witwe bleiben. Doch das will sie sich von ihm nicht vorschreiben lassen und ersinnt eine List: Als ihr Schwiegervater Juda mal wieder auftaucht, verkleidet sie sich als Dirne, und er nimmt nichtsahnend ihre Dienste in Anspruch, sie behält ein Pfand zurück. Die folgende Schwangerschaft bedeutete nach altem Recht eigentlich Todesstrafe – für die Frau. Und Juda fordert diese Strafe für die Schwiegertochter. Als diese ihm aber seine Vaterschaft beweisen kann, darf sie leben – und mit ihr das Kind.

Rahab war tatsächlich eine Dirne. Sie versteckt die Kundschafter bei sich, damit diese während ihrer Erkundung in Jericho, das Josua erobern will, nicht in Gefahr geraten. So wird sie zur Lebensretterin von Spionen, die für ihr eigenes Volk Ursache des Untergangs werden. Als Dank erhält Rahab später Heimatrecht in Israel. Die dritte Frau ist Rut, eine moabitische Migrantin, verwitwet und noch kinderlos. In Israel und der Arbeitswelt angekommen, lässt sie sich dazu verleiten, heimlich unter die Decke ihres Arbeitgebers Boas zu schlüpfen, einem wohlhabenden Grossbauern, der von Rut schon ganz positiv angetan war. Und Boas heiratet mit Rut ausgerechnet eine Moabiterin, Angehörige der sprichwörtlichen Erzfeinde Israels. Sie wird zur Grossmutter von König David.Die vierte Dame, Batscheba, gehört zu König Davids Harem. Auf diese verheiratete Nachbarin hat der König ein Auge geworfen und sich zu einem Seitensprung hinreissen lassen. Um ihre Schwangerschaft zu kaschieren und eine Heirat zu legitimieren, lässt er ihren Ehemann an der Front so positionieren, dass dieser fällt. 

Bei so viel Unheil in der heiligen Familie ist es gut, dass das Kind einen weiteren Namen bekommt: «Jesus», «Retter von Sünden». In unserer Zeit gilt es als unchic, das Wörtchen «Sünde» in den Mund zu nehmen. Damit lassen wir uns nicht gerne assoziieren. Das riecht nach Moral, will heissen, Bedingungen, die institutionell vorgeschrieben werden, das Gewissen belasten, aber nicht frei machen. Nein, von Sünde zu reden, das ist out. Höchstens bei Kaloriendelikten bedienen wir uns noch dieses Begriffs, um uns selbst zur «raison» zu bringen und den kulinarischen Versuchungen nicht zu erliegen.

Allerdings – «Sünde» thematisiert nicht Bürgerlichkeit, sondern all das, was der oben erwähnten «lebensmöglichen Ordnung», dem «Kosmos», zuwiderläuft beziehungsweise sie gefährdet. «Sünde» ist in der Antike eng verbunden mit der Vorstellung, dass die ganze Wirklichkeit, auch die der Natur, von personhaften Verursachern realisiert wird. Es gibt demnach kein unpersönliches Schicksal, keine unpersönliche «höhere Gewalt». Daher beispielsweise die Überzeugung, dass gutes Tun lebensförderndes, schlechtes Tun lebenshinderndes Ergehen nach sich zieht. Bis heute wirkt diese alte Überzeugung nach, wenn Menschen, getroffen von schweren Schicksalsschlägen, darüber nachgrübeln, wie sie solches verdient hätten. 

Natürlich hat sich unser Weltbild gewandelt und interpretieren wir heute Erdbeben nicht als göttliche Strafaktionen für Umweltdelikte oder als Zeichen beleidigter Götter angesichts hoher Lärmemissionen. Jedoch ist uns der unmittelbare Zusammenhang von Ausbeutung auf Kosten der Umwelt oder von Konsumgier auf Kosten menschenunwürdiger Arbeits- und Lebensbedingungen inzwischen bewusst geworden. Lebenshindernde Realitäten, lebensunter- und -erdrückendes Verhalten, gefährdende und des­truktive Mechanismen prägen den Alltag unserer Welt, als sei sie nicht anders realisierbar. Die Welt ist keine heile. Sie ist gekennzeichnet von Lebenshindernissen, Lethargie, Bedrohung. Josefs Adoptivkind trägt den Namen «Jesus». Und der Name ist Programm: Er wird retten von den Sünden, sprich, Wege aufzeigen und zu begehen einladen, die aus destruktivem Chaos herausführen und deshalb schöpferisch sein werden. Für Matthäus mit «Immanuel» nichts Unmögliches. 

Aber, das Programm braucht Leute wie Josef, die «gerecht» sein wollen, die gut handeln an anderen. Menschen, sensibel genug, um wahrzunehmen, welche Wege aus der unheilen Gegenwart, aus Chaos, Lebens- und Überlebenshindernissen herausführen, Menschen, die dem Destruktiven fantasievoll, mutig und entschieden Einhalt gebieten. Demütige, die, wie Josef, auf Selbstinszenierung zu verzichten bereit sind. Denn nicht sie, sondern das, beziehungsweise der Lebensdienliche, Befreiende und dem Chaos Einhalt Gebietende möge sichtbar werden.


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